21 Juni 2021

Claude Simon: Anschauungsunterricht


 

Zu Beginn des zweiten Weltkrieges haben sich Soldaten in einem geräumten Haus verschanzt. Während sie auf den anrückenden Feind warten, blättert der Scharfschütze in einem Buch. Es heißt "Anschauungsunterricht" - wie das gleichnamige französische Schulfach - und zeigt Materialien und Techniken des Häuserbaus, Maurer bei der Arbeit, Felsformationen am Meer. An der Wand des Zimmers, in dem die Soldaten postiert sind, hängen zwei Farbdrucke: ein Kalenderblatt und die Reproduktion eines Gemäldes von Claude Monet ... Diesen Bildern entstammt die kleine Gruppe (drei Frauen, ein Kind, ein Mann), die an einer Steilküste entlangwandert und eine Baustelle besucht, um sich vom Stand der Arbeiten zu überzeugen. Während des Spaziergangs verabredet sich der Mann mit einer der Frauen zu einem nächtlichen Stelldichein ... Zwei Maurer sind dabei, die Trennwand eines verfallenden Hauses einzureißen. Während der Vesperpause erzählt der Ältere, wie er als Kavalleriesoldat in Flandern mit knapper Not dem Tod entronnen ist ... Drei Begebenheiten aus unterschiedlichen Zeiten, zusammengeführt im Raum eines Leeren Hauses, miteinander verknüpft durch die kunstvolle Komposition des Textes.

Heutzutage sei es legitim, sagte Claude Simon in seiner Stockholmer Nobelpreisrede, vom Roman eine Glaubwürdigkeit zu verlangen, die er "durch die Relevanz seiner inneren Bezüge erhält (...) in dem Sinne, daß ein bestimmtes Ereignis, das beschrieben und nicht mehr berichtet wird, einem bestimmten anderen folgt oder vorausgeht allein aufgrund ihrer jeweiligen Eigenschaften".

Simons zentrale Themen - Krieg und Tod, Liebe, Arbeit - kehren auch in diesem späten Roman wieder, dessen Sprache selbst Alltägliches auffällig, ja befremdlich macht, als schaute man es zum ersten Mal an.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Aufl., 1988
Edition Neue Texte
Mit der Stockholmer Rede des Autors, übersetzt von Brigitte Burmeister

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