16 Juni 2021

Elsa Morante: Der andalusische Schal

Elsa Morante, die große italienische Erzählerin, siedelt ihre Geschichten in den Randbezirken psychischen Erlebens an, die ans Reich der Phantasie, des Traums und Spuks grenzen. Oft sind es Kinder, junge Menschen, die sich von ihrer gesteigerten Einbildungskraft über jene Grenze hinwegtragen lassen und sich dem schwer Faßbaren, Geheimnisvollen öffnen. Manche der Geschichten sind von bedrängender Unheimlichkeit. Da verschwimmt das Phantasiebild eines Kindes auf schemenhafte Weise mit einem realen Sterbevorgang („Der Mann mit der Brille“); oder selbstsüchtige Mutterliebe schlägt um in dämonische, unheilstiftende Eifersucht („Die Großmutter“). Die eigentümliche, gleichsam magische Schwebe zwischen Wahrheit und Wahn kann aber auch durch den Absturz in die ernüchternde Realität beendet werden. Der junge Andrea in der Titelgeschichte muß erleben, wie sein Trugbild von der fernen, skandalumwitterten Mutter zerrinnt und mit ihm all seine falschen Gewißheiten zerstieben. Nach einer Nacht der äußeren Abenteuer und inneren Umstürze tritt er, bar aller Illusionen, ins Leben, „ein traurig-verwegener Held, gehüllt in einen andalusischen Schal“.

Elsa Morante bedient sich für ihre feinnervige Erzählkunst traditioneller Mittel und baut mit ihnen suggestive poetische Visionen und knappe, eindringliche Psychogramme auf. Den Hintergrund bildet ein nur in Andeutungen wahrnehmbares Süditalien abseits der modernen Zeit, das in Patriarchalismus und fatalistischer Lethargie vor sich hin dämmert und den Glauben an obskure Mächte und Schicksale kultiviert. In den bizarren Phantasien und Spukgeschichten sensibler Naturen blüht eine zweite Wirklichkeit auf, deren Schatten oft bedrohlich die erste überlagert, innere Gefährdung zur äußeren werden läßt.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1988, 1. Auflage
bb 616

 

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