27 Juli 2021

Hermann Bahr: Leander – Erzählungen

Hermann Bahr, skandalumwitterter Exponent der „Wiener Moderne“ und einer der umstrittensten Literaten der deutschsprachigen Literatur vor 1914, ist heute nur noch wenigen bekannt. Sein einstiger Ruhm, genährt von einer geradezu hektischen Produktivität, vom chamäleonhaften Wechsel von einer literarischen Strömung zur anderen wie von naturalistischen, symbolistischen und expressionistischen Manifesten, ist heute verblaßt. Lediglich an sein erfolgreichstes Lustspiel „Das Konzert“ haben sich Theater- und Filmleute immer wieder erinnert.

Der Autor, der von sich sagen konnte: „Ich habe fast jede geistige Mode mitgemacht, aber vorher, nämlich als sie noch nicht Mode war“, erregte auch 1890 mit seinem Erzählungsband „Fin de siècle“ einen Skandal: Das Buch blieb im kaiserlichen Deutschland bis 1914 verboten. Bahrs Erzählungen, Skizzen und Anekdoten, allesamt in den zwei Jahrzehnten um die Jahrhundertwende entstanden und publiziert, wirken auch heute beachtlich frisch. Mit satirischem Witz und psychologischem Einfühlungsvermögen wird die Wiener bourgeoise Gesellschaft der Jahrhundertwende treffsicher porträtiert. Die mal „frivole“, mal ernste Auseinandersetzung mit dem „Grundwesen des Wieners“, das nach Egon Friedell in der „feudalen Fähigkeit“ besteht, „mit allem zu spielen, alles von der freien, aber auch völlig unverantwortlichen Höhe einer Skepsis zu betrachten, der alles gleich wichtig und gleich unwichtig ist“, führt zu präzisen und gekonnt gearbeiteten Charakterstudien seiner unheldischen Helden, die er in den Geschichten Revue passieren läßt. Den Professor zum Beispiel, der mit „deutscher Gründlichkeit“ einem etwas perversen Keuschheitsbegriff lebt, den Verführer der schönen Dora, der letztlich ein betrogener Betrüger ist, und Leander, der sich angesichts der Prüfungen, denen er ausgesetzt wird, als nur seinen narzißtischen Neigungen folgender Dekadent erweist.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1986
bb 572

 

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