22 Oktober 2021

James Leslie Mitchell: „Ein schottisches Buch“ - Trilogie

Der lange Weg durchs Ginstermoor

In der herben Landschaft Nordostschottlands, im Mearnsgebiet zwischen dem Grampiangebirge und der Nordsee, eingebettet in Hügel und ginsterbestandenes Hochmoor, unterhalb eines Steinkreises, der Erinnerungen an graue Vorzeit heraufbeschwört, in der Nähe düsterer Burgen – dort liegt der Weiler Kinraddie. Auf der Blaweariefarm verlebte die leidenschaftliche, nach einem erfüllten Leben strebende Chris Guthrie ihre Jungmädchenjahre. Die mühevolle Arbeit auf kargem Boden hat aus John Guthrie einen strengen Mann gemacht, dem nach tragischen Ereignissen und bitteren Zerwürfnissen nur das Land und seine Tochter Chris bleiben. Und als auch er besiegt ist, beginnt für Chris, die Heldin dieses Buches, ein glückliches Leben an der Seite Ewan Tavendales und ihres Sohnes. In diesem Familienroman wird eine ländliche Gemeinschaft, werden Farmer und Landarbeiter, glattzüngige Pastoren und stolze Hochlandschotten lebendig: der Lange Rob von der Mühle, ein an alte Volkshelden erinnernder Freidenker; der vitale und gerechte Chae Strachan, der großmäulige Ire Ellison, die raffgierigen Nachbarn Munro, Mutch und Gordon; Reverend Gibbon und der Dudelsackpfeifer McIvor. Hier wird der schottische Farmer in seiner Widersprüchlichkeit begreifbar, in seiner Hilfsbereitschaft und Schwatzhaftigkeit, Offenheit und Hinterlist, Sinnenfreude und Bigotterie. Wie von einem Barden vorgetragen, fließt die episodenreiche, von derbironischem Volkshumor durchdrungene Handlung dahin. Die Landschaft und dramatische Höhepunkte werden nacherlebbar gestaltet: der Brand von Chae Strachans Anwesen, Chris‘ Hochzeit und die Gedenkfeier zu Ehren der im ersten Weltkrieg Gefallenen.

Dieser erste Band der Trilogie ist mit seiner Urwüchsigkeit, dem rhythmischen Schwung der Sprache und der balladesken Schilderung von Sitten und Gebräuchen ein Buch von poetischer Schönheit.

Verlag Volk und Welt Berlin 1977


Wolken über der Ebene

Chris und Pfarrer Colquohoun verlassen im zweiten Band von Mitchells Trilogie den Weiler Kinraddie und siedeln sich in Segget an.
Ach, Segget ist ein schmutz’ges Nest,
voll Jauche alle Pfützen,
’ne Kirche ohne Glockenturm,
ein Volk von groben Klötzen.
So heißt es in einem Spottgedicht über das an der Südseite des Mounth, in der Ebene von Mearns, gelegene Städtchen. Der tatkräftige Robert Colquohoun möchte hier, wo Boshaftigkeit und Klatschsucht und schmuddelige Ehrbarkeit zu Hause sind, wo engstirnige und engherzige Spießer den Ton angeben, mit Unterstützung der Bürger umwälzende Veränderungen herbeiführen. Doch Männer wie der wieselgleiche Schneider Peter Peat, der lüsterne Großbauer Dalziel, der frömmelnde Postmeister MacDougall Brown oder gar der Fabrikbesitzer und geschniegelte Lebemann Stephen Mowat wollen die bestehenden Verhältnisse nicht angetastet sehen. Robert Colquohoun erkennt, daß er einem Trugbild nachgejagt ist und daß seine Hoffnungen nichts als Nebelschleier waren. Nach qualvollen inneren Auseinandersetzungen, die zu Mißverständnissen zwischen ihm und seiner Frau führen, wendet er sich schließlich zukunftsträchtigen Ideen zu. Ihm bleibt nicht die Zeit, sie zu verwirklichen, doch mit Ewan Tavendale, seinem Stiefsohn, reift eine neue, wache Generation heran.
Derbhumoristische Episoden verdichten sich in diesem Roman zu einer amüsanten Satire auf den schottischen Kleinbürger. Seine Verhaltensweisen und Vorurteile spiegeln nicht bloß die Atmosphäre in einer schottischen Kleinstadt der späten zwanziger Jahre, sondern sie vermitteln das Bild einer Gesellschaft in einer bewegten Zeit.

Verlag Volk und Welt Berlin 1977


Flamme in grauem Granit

Auch der letzte Band der Romanfolge „Ein schottisches Buch“ ist ein ungewöhnliches Leseerlebnis. Die episodenreiche, bewegte Handlung spielt in Duncairn, einer auf der Ebene von Mearns gelegenen Industriestadt, über der hauchzarte Schleier gelben Nebels liegen und wo ständig der Geschmack alten Rauchs zu spüren ist. Hier prallen die sozialen Gegensätze hart aufeinander, und hier begegnen wir der verwitweten Chris Colquohoun und ihrem Sohn Ewan Tavendale wieder. Chris glaubt, Liebe, Begehren und Hoffnung seien in der Vergangenheit, in Kinraddie und Segget, begraben. Sie widmet sich ganz der täglichen Arbeit in der Pension, die sie als Teilhaberin der polternden Mutter Cleghorn betreibt. Ewan, Lehrling in einem Stahlwerk, begreift recht bald, daß man nicht unbeteiligt an seiner Zeit vorbeieilen darf. Durch seine Freundschaft mit jungen Arbeitern erhält er Einblick in eine für ihn bisher fremde Welt, die hübsche Lehrerin Ellen und der Arbeiterführer Big Jim Trease bewirken eine Wandlung zur befreienden Tat. Voller Sympathie beobachtet Chris die Entwicklung ihres Sohnes, doch herkunftsbedingte Vorstellungen hindern sie, ihm zu folgen. Als sie schließlich die Pension auf der Windmühlenhöh aufgibt, als der Tod oder Mißverständnisse sie von nahestehenden Menschen trennen, kehrt diese ungewöhnliche Frau an den Ort ihrer Kindheit zurück, auf den Bauernhof Cairndhu. Und am Ende des Buches blickt Chris Colquohoun auf ihr erfülltes Leben zurück und denkt über den Wandel nach, der, „vergleichbar dem Wind, Erlöser, Zerstörer und Freund in einem ist“.

Verlag Volk und Welt Berlin 1977




 

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