13 November 2021

A. Daudet: Briefe aus meiner Mühle

Vielleicht ahnt mancher gar nicht, welcher Art die Gedanken sind, denen Daudet in einer alten, unbenutzten Mühle im Lande der Tamburine und des Muskatellers, umgeben vom Gesang der Meisen und Grillen, nachhing und welch reizvolle Gebilde diesem Träumen entsprangen. Schwankhaft, derb, volkstümlich, saftvoll und plastisch sind die Geschichten von der nachträglichen Mauleselin des Papstes, vom sündenanfälligen Pater Gaucher, vom trefflich wortgewaltigen Pfarrer von Cucugnan, von den drei Stillen Messen. Doch oft wird die Heiterkeit von leiser Wehmut abgelöst, sobald von guten alten Käuzen wie dem Windmüller Corneille die Rede ist oder von dem erblindeten Bixiou, der ein Leben lang das wohldosierte Gift seines Sarkasmus verspritzte und in dem doch ein menschliches Herz schlägt…

Ja, selbst tiefe Tragik blitzt für Augenblicke auf: vor der Leiche Jans, des unglücklichen Liebhabers, und im Antlitz des Scherenschleifers von Beaucaire, mit dessen Weib es noch ein böses Ende nehmen wird.

Feingewoben, wie duftige Schleier, die der Dichter ewigen Wahrheiten überwirft: die gleichnishafte Erzählung vom Tod des Dauphins, von den Ziegen des Herrn Seguin, vom Mann mit dem goldenen Gehirn. Und wer nicht ergriffen ist vom Geheimnis jener verfallenen Schenke an der staubigen Landstraße von Nimes oder von dem Wunder, das einem schwergeplagten Unterpräfekten in der Gesellschaft von Grasmücken und Grünspechten geschieht – der hat einfach keine Poesie im Leibe!

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
Illustrationen: Hanns Georgi


ALPHONSE DAUDET (1840-1897) stimmt in die Lektüre seines heiter-besinnlichen Büchleins mit den Sätzen ein: "Die Kaninchen - ja, die haben gestaunt! ... Solange hatten sie das Mühlentor verschlossen gesehen, Mauern und Plattform von Kräutern überwuchert, daß sie schließlich des Glaubens waren, das Geschlecht der Müller sei erloschen, und da sie den Ort geeignet fanden, hatten sie daraus etwas wie ein Hauptquartier, ein Zentrum für ihre strategischen Operationen gemacht: die Mühle von Jemmapes der Kaninchen ...
Noch einer, der sich sehr wundert, mich zu sehen, ist der Mieter der ersten Etage, ein finsterer alter Uhu mit Philosophenkopf, der seit mehr als zwanzig Jahren in der Mühle wohnt. Ich habe ihn in der oberen Kammer gefunden, wo er steif und regungslos auf der Flügelwelle saß, zwischen Gipsschutt und herabgestürzten Ziegeln. ... Er behält wie früher den ganzen Oberteil der Mühle mit einem Eingang durchs Dach; ich nehme mir den unteren Raum, ein kleines kalkgeweißtes Zimmer, gewölbt und niedrig wie das Refektorium eines Klosters.
Von da also schreibe ich Euch, bei weitgeöffneter Tür und in der lieben Sonne."

Reclams Universal-Bibliothek Band 713
BELLETRISTIK
MIT ILLUSTRATIONEN


 

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