06 März 2022

Anna Seghers: Transit

Anna Seghers (geb. 1900) schildert in "Transit" (1943) "die Situation der politischen Flüchtlinge, die in Marseille auf ein Schiff warten, um vor den vorrückenden Hitlerarmeen und ihrem SS-Gefolge weiter zu fliehen. Damit Europa sie aus seinen Fängen entläßt, brauchen sie Papiere, ein Visum, ein Transitvisum, einen Behördenstempel, noch einen Behördenstempel, und wenn sie das letzte Papier haben, ist das erste abgelaufen. Sie stehen in den Konsulaten, sie stehen in den Reisebüros, sie wandern in den Straßen, sie warten in den Kaffeehäusern: ganz Marseille ein Dschungel der Bürokratie.
Das Merkwürdige an dem nun ist seine Verwandtschaft mit der erzählerischen Alpdruckwelt Franz Kafkas. Aber merkwürdiger als die Verwandtschaft ist der Unterschied. Kafka unterliegt einem Traumzwang, in welchem er eine Welt, die er in Frage stellt, mit vergeblichen Fragen bestürmt. Anna Seghers unterliegt einem Wirklichkeitszwang, in welchem sie die Frage nach einer sozialen Situation stellt, die den Sinn  menschlicher Institutionen zum Unsinn verkehrt..." (gekürzt) - Paul Rilla

Reclams Universal-Bibliothek Band 198, 1. Auflage


Anna Seghers begann diesen Roman, als sie selbst, 1940, in Marseille um ihre Ausreisepapiere kämpfte. Sie wurde Augenzeuge jener verzweifelten Panik, von der die Hafenstadt im unbesetzten Frankreich erfüllt war. Das Marseille ihres Buches hat das Gesicht dieser Zeit: ein brodelnder Kessel voller Hektik, Gerüchte, Hoffnungen und Angst. Zu Tausenden treffen sie ein, Menschen auf der Flucht vor den deutschen Faschisten, Verfolgte aus allen Ländern Europas. Sie hetzen nach Visen, Stempeln, Bescheinigungen, ohne die sie den Kontinent nicht verlassen können. Alle haben nur einen Wunsch: abzufahren, nur eine Furcht: zurückzubleiben. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Das erste Papier kann verfallen sein, wenn das letzte genehmigt wird. Ein unberechenbarer, gnadenloser Mechanismus.
Der Sog des Abreisefiebers macht auch Beobachter zu Beteiligten. Plötzlich steht jener deutsche Flüchtling, der mit der Hinterlassenschaft eines toten Schriftstellers ankam, ebenfalls unter den Wartenden vor den Konsulaten. Auf der Jagd von Behörde zu Behörde kreuzt er wieder ihre Wege, und er trifft sie in den Cafés und Kneipen, in den überfüllten Hotels, in den Straßen der Stadt. Gesichter werden ihm vertraut, Schicksale bekannt. Für kurze Zeit sind fremde Leben durch Hoffnungen, Leidenschaften, Wünsche miteinander verknüpft. Der Zufall trennt sie wieder, oder: der Entschluß zu bleiben, Widerstand zu bieten.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1985
bb


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