20 Juni 2022

Jutta Hecker: Traum der ewigen Schönheit


"Wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel fiel die Nachricht von Winckelmanns Tode zwischen uns nieder. Dieser ungeheuere Vorfall tat eine ungeheuere Wirkung; es war wie ein allgemeines Jammern und Wehklagen, und sein frühzeitiger Tod schärfte die Aufmerksamkeit auf den Wert seines Lebens." Mit diesen Worten schildert Goethe den Eindruck, den die Ermordung des berühmten Altertumsforschers Johann Joachim Winckelmann auf ihn ausübte. Diesem Manne, der aus dürftigsten Verhältnissen stammte und zum Begründer der wissenschaftlichen Altertumskunde wurde, wendet sich Jutta Hecker in ihrer romanhaften Biographie zu. Wie in ihren Büchern über Wieland, Eckermann und Liszt vermittelt die bekannte Autorin ein anschauliches Bild des Lebensweges eines großen Deutschen von seiner Kindheit in Stendal bis zu seinem Aufstieg zum Präsidenten der Altertümer Italiens und seinem jähen Ende in Triest.
Jutta Hecker versteht es, dem Leser Winckelmanns Bedeutung für seine Zeit wie für die Gegenwart in einer einfühlsamen und lebendigen Darstellung nahezubringen.

Leseprobe

Alle lachten. Sie stimmten zu; sie redeten durcheinander, sie hoben die Gläser. Sie waren wie berauscht von Winckelmanns neuem Plan. Welche Tat in die Zukunft hinein. Oh, da war ein Aufbruch, und einer von ihnen ging voran!
Winckelmann sah mit seinen dunklen Augen die begeisterten Gesichter um sich her. Er lächelte undurchsichtig. Dann hob er die bastumwundene Weinflasche an den Mund und trank endlos. Man sah den Adamsapfel auf und nieder gehen. Als er die Flasche absetzte, leckte er sich umständlich und breit über die Lippen. Plötzlich kämmte er sich mit beiden Händen das Haar tief in die Stirn, riß ein Tuch vom Stuhl, schlang es wie einen Mantel um sich, streckte zwei Finger aus dem Umhang, taktierte damit und sang mit hohler Stimme: "Media vita in morte sumus - Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen!"
Die anderen lächelten verwundert. Die Decke hing bis auf den Marmorfußboden hinab. Und sie erschraken. Welch eine häßliche faunhafte Fratze hatte er doch im Grunde!

Verlag der Nation Berlin 1979
 

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