05 September 2022

Fred Wander: Doppeltes Antlitz


 Dies ist keine Reportage im üblichen Sinn - nicht das Buch eines Mannes, der, wohlausgerüstet mit Fotoapparaten und sachlichen Kenntnissen, auszog, um eine Stadt zu besichtigen, zu studieren und über sie zu berichten. Fred Wander führte in seinem Reisegepäck etwas mit, was nur ihm zu eigen war: seine Erinnerungen, das Bild der Stadt Paris und ihrer Bewohner, das er viele Jahre liebend und dankbar in sich trug. Neunzehnhundertachtunddreißig hatte der aus seiner Heimat vertriebene junge Österreicher hier Zuflucht gefunden. Nach einer kurzen Zeit furchtbarer Vereinsamung, die ihn blind machte für den Zauber seiner Umgebung, wurde er sehend. Er erblickte die Schönheit alter Bäume und Paläste, und er las die Botschaft der Güte in den Augen von Frauen und Männern, die ihm mit bescheidener Selbstverständlichkeit Hilfe boten. Als der Fünfundvierzigjährige an die Seine zurückkehrt, versucht er, den Spuren einiger Freunde nachzugehen, die ihm damals den Mut zum Leben wiedergaben. Dabei begegnet ihm viel Unerwartetes, und er beginnt zu begreifen, dass es sich mit den Menschen ebenso verhält wie mit der Stadt: "Nichts hat sich verändert, und doch ist alles anders geworden." Aber ist denn nicht auch er in diesen fünfundzwanzig weltverändernden Jahren ein anderer geworden? Und so wird ihm die Begegnung mit der alten, neuen Stadt unversehens zur Begegnung mit dem alten, neuen Ich ...

Aus dieser inneren Beteiligung, aus dem Spannungsverhältnis zwischen vertrauter Vergangenheit und überraschender Gegenwart stammt die ungewöhnliche Form ebenso wie die Überzeugungskraft dieses Buches. Fred Wander setzt sich mit der Stadt Paris auseinander wie mit einem echten Freund, dem man mehr schuldet als Liebe und Dankbarkeit: das Bemühen, ihn in allen seinen Wandlungen unvoreingenommen prüfend zu begreifen. Der Autor lässt uns diesen erregenden Prozess des Wieder- und Neuerkennens miterleben, in dem so manche Cliché-Vorstellung von der "Lichterstadt" zerstört wird. Er führt uns in die alten, verfallenen Quartiere mit ihren skurrilen und liebenswerten Bewohnern, in Markthallen und Kneipen, aber auch in einen Wohnturm der "Schlafstadt" Sarcelles, in Studentencafés und Kunstsalons, in Bürgerwohnungen und in die turbulenten Tanzlokale der "Copains". Wir hören seine Gespräche mit Arbeitern und Intellektuellen, mit Globetrottern und Polizisten, mit alten und jungen Zynikern, aber auch mit alten und jungen Kämpfern. Und so entsteht ein unerwartetes Bild dieser Stadt und ihrer Menschen, ein Bild, in dem sich, aus großen Traditionen und umwälzenden Veränderungen hervorwachsend, die Hoffnung auf eine neue äußere und innere Harmonie abzeichnet.

Verlag Volk und Welt, Berlin, 1966, 1. Auflage
Mit 174 Fotografien: 164 von Fred und Maxie Wander, 4 von Jochen Moll, 6 von Photo-Pic, Paris

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