06 September 2022

Jean-Paul Satre: Die Wörter

"Ich erzähle von einer Kindheit, die den Menschen meines Alters - den Sechzigjährigen - reichlich seltsam erscheinen mag, den Jüngeren jedoch völlig exotisch und unwahrscheinlich. Noch heute nennt die Bourgeoisie in Frankreich die Jahre von 1900 bis 1914 elegisch die "schöne Zeit". Schön war sie keineswegs - jedenfalls nicht für die arbeitenden Klassen, doch Regierung und Presse bemäntelten die wahre Lage der Dinge, und das Kleinbürgertum bemühte sich, sie nicht zu bemerken. Ich erzähle von einer bürgerlichen Kindheit.

Als Sohn und Enkel kleinbürgerlicher Intellektueller sah ich das, was sie mir zeigten - eine geordnete Welt. In Glück und Langeweile erlebte ich das schwierige Jahrzehnt, das dem Gemetzel des Jahres 1914 voranging. Wozu, könnte jemand fragen, soll man von diesem leeren und verlogenen Traum berichten? Zwei Gründe haben mich dazu bewogen.

Vor allem wollte ich den verschlungenen Weg beschreiben, den die Franzosen meines Alters gegangen sind, die Katastrophen und Erschütterungen, die ihren pseudoeinfältigen Optimismus und ihren Idealismus zerstörten. Ich wollte erzählen, wie viele von ihnen - darunter auch ich - sich schließlich dem Lager der Ausgebeuteten und Unterdrückten anschlossen und auf ihre Weise für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu arbeiten begannen. Die Oktoberrevolution wurde das große Ereignis unseres Lebens. Wir erlebten sie von fern und mit Verspätung, ein wenig provinziell. Und dennoch war es eine Konfrontierung der Menschen aus dem Westen mit den grandiosen Ereignissen in der Sowjetunion...

Meine zweite Absicht wurde von manchen falsch interpretiert. Kritiker haben mir vorgeworfen, ich beurteilte das Kind, das ich einst war, zu streng. Man hat es gern, wenn Erinnerungen von Nachsicht gegen die eigene Person durchdrungen sind, wenn der Autor über sich in Rührung gerät und damit andere rührt. Ich bin weder streng noch nachsichtig, ich mache nicht dem Knaben einen Vorwurf, sondern dem Milieu und der Zeit, die ihn geformt haben. Die Hauptsache ist jedoch: Ich hasse den Mythos von der Kindheit, den die Erwachsenen geschaffen haben. Ich bitte, dieses Buch für das zu halten, was es ist: für den Versuch, einem Mythos den Nimbus zu nehmen." (Jean-Paul Satre in der Zeitschrift "Nowyi mir")

Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1. Auflage 1965
Aus dem Französischen übersetzt von Hans Mayer

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.