04 September 2022

Wojciech Zukrowski: Ariadnes Nächte und andere Erzählungen

In diesen vierzehn farbensatten und stimmungsstarken Erzählungen des katholischen polnischen Autors ist die Liebe, im umfassenden Sinne des Wortes, ein Grundmotiv: die Liebe zwischen den Geschlechtern, die in mehrfachen, von jähem Glück und tiefem Ernst bis ins Komische und Groteske reichenden Variationen gestaltet wird; die leidenschaftliche Liebe für ein herrliches Pferd, von der in der – durch Andrzej Wajda eindrucksvoll verfilmten – Erzählung «Lotna» das Geschick einer Gruppe von Kavalleristen in den Kriegswochen des Septembers 1939 mitbestimmt wird; die Liebe zum Nächsten, die von Pater Pawel in der erschütternden Erzählung «Vor der Pforte» bis zur Opferung des eigenen Lebens für einen Feind vorgelebt wird; die Liebe zum unterdrückten Vaterland, von der die geschilderten Widerstandsaktionen in den Jahren der Okkupation getragen sind; und, in der Titelerzählung «Ariadnes Nächte», die überströmende Liebe zum Leben und zur Schöpfung, die das Herz des jungen, lungenkranken Mädchens erfüllt, das in der Luft des Bergwinters und Bergfrühlings und unter der Fürsorge einfacher Bauersleute gesundet.

Wojciech Żukrowski, der 1916 geborene, in seinem Heimatland sehr erfolgreiche Autor, dessen Bücher in Polen in fast zwei Millionen Exemplaren verbreitet sind und bereits in sechzehn Sprachen übersetzt wurden, ist bei uns durch seinen Roman «Tage der Niederlage» und die beliebten Kinderbücher «Entführung in Tiutiurlistan» und «Mein Freund der Elefant» bekannt geworden. Mit dem vorliegenden Band wird der katholische Schriftsteller zum erstenmal in deutscher Sprache mit einer Auswahl aus seinem vielfältigen erzählerischen Schaffen vorgestellt. Eine Reihe dieser Erzählungen zeigen deutliche autobiographische Züge, sie enthalten Kindheits- und Familienerinnerungen, greifen auf Erlebnisse Zukrowskis als Offizier im Krieg von 1939, bei der Arbeit im Steinbruch und im Kampf der polnischen Untergrundbewegung zurück und spiegeln, in zeitlicher Folge angeordnet, ein Stück persönlich erlebter Geschichte

Buchanfang

Der Tyrann oder Ein Sargporträt

Kennt ihr die dunklen Barockporträts auf Sechsecken aus Eichenholz oder Kupferblech? Manchmal hängt sie der Pfarrer, um dem Familienehrgeiz der Patronatsherren zu schmeicheln, unter dem Tonnengewölbe der Sakristei auf, an der dick geweißten Wand, deren Unebenheiten der Staub ausgeglichen hat. Auch in Kirchengruften findet man sie; sie sind auf gewaltigen Särgen angebracht, in denen sich ausgetrocknete Gestalten in vermoderten Trachten breitmachen.

Ich erinnere mich eines derartigen unterirdischen Gewölbes in der Kulikower Kirche. Geräuschlos schritt ich über den trockenen Sand, der so fein war wie gesiebte Asche. Aus der Dunkelheit kam ein kaum wahrnehmbarer Geruch von Schwefel und – schwächer noch – von ranzigen Nüssen. Es war so still, daß ich das Knistern des Dochtes hörte; das rotgesäumte Flämmchen wallte leicht, als rühre jemand mit einem Stöckchen in abgestandenem, herbstlichem Wasser. Ich sah die Gesichter auf den Trauerporträts, die Särge, die sich bis zur Decke türmten. Der flackernde Schein beleuchtete den gelblichen Fleck eines Antlitzes, das eingefaßt war vom Weiß einer Haube oder von einem ausrasierten grauhaarigen Schopf; nur die weitgeöffneten Augen blickten lebhaft und aufdringlich.

Wißt ihr, wie solche Sargporträts entstanden? Der herbeigerufene Farbenkleckser, der sich vorher noch schnell ein bißchen Mut antrank, malte sie in Eile, über den Leichnam gebeugt. Ein stilles, erloschenes Gesicht, wie aus Wachs.

Inhalt

5      Der Tyrann oder Ein Sargporträt
31    Das Abendbrot
45    Das Homen
52    Knabenspiele
59    Lotna
110  Vor der Pforte
143  Im Steinbruch
169  Das Begräbnis
178  Saubere Arbeit
208  Mli-Mli
230  Ein nächtliches Gespräch
262  Die Diagnose
270  Marylas Herzchen oder Die Rache
282  Ariadnes Nächte

Union Verlag (VOB) Berlin, 1967
Aus dem Polnischen übersetzt von Kurt Kelm

 

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