Diese Tagebücher aus dem Warschauer, Krakauer und Lemberger Ghetto sind den Archiven des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau entnommen und werden zum erstenmal außerhalb Polens veröffentlicht. Ob es die erschütternden Erinnerungen einer Zwölfjährigen sind oder der grausige Bericht über die "Todesbrigade" - jedes einzelne dieser Dokumente bewegt nicht nur durch die Darstellung der ungeheuerlichen Verbrechen der Faschisten, sondern auch durch die heldenhafte Haltung, mit der die Opfer ihre Mörder besiegten.
VORWORT (Auszug)
Immer wieder drängte sich mir, der ich seit fünfzig Jahren die europäische Literatur lesend durchforscht hatte, nach Kenntnisnahme der fünf Tagebücher dieses Buches die Überzeugung auf, ihr Inhalt und menschliches Gewicht lasse sich nur vergleichen mit jenem schon sechshundert Jahre lang lebendigen literarischen Denkmal, das als Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ am Anfang unserer modernen Literatur leuchtet, und zwar mit dessen erstem Teil, der Hölle. Um aber die damalige von der heutigen schriftstellerischen Aussage zu unterscheiden, stellen wir nur nebeneinander die Inschrift über Dantes Höllentor: „Laß, wer hier eintritt, alle Hoffnung schwinden!“ und den schlichten Prosasatz der Gusta Draenger geborene Dawidsohn: „Das war es, das einzig wollten wir nicht: uns ergeben.“
So also halten wir in Händen Zeugnisse des Widerstands jüdisch-polnischer Jugend gegen die unwahrscheinliche, bis zu ihrem Ende nicht geglaubte fürchterliche Unterwelt, in welche fünf Jahre Alleinherrschaft hitlerisch geleiteter und umgeschulter Mörderheere deutschsprechender Soldateska polnische und ukrainische Stadt- und Landschaften verwandelt hatte, bis auch hier die Rote Armee rettend einbrach. Man erwäge nun, daß sich all diese Ereignisse in unserer Lebenszeit abspielten, in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und daß Leidende wie Täter aus Umgebungen kamen, die unsere tägliche Umwelt bilden: aus Straßen großer oder kleiner Städte mit elektrischem Licht, Wasserleitung und Kanalisation, mit Fußböden aus poliertem Holz in den Häusern, mit großen Fenstern, Telefonen, wärmenden Kachelöfen oder Zentralheizungen. An modern aufgebaute und geleitete Schulen waren sie gewöhnt, an ebensolche Krankenhäuser, Universitäten. All die Opfer der Barbaren, die in die finsterste Sklaverei der Antike zurückgestürzt wurden, erweisen sich in ihren Aufzeichnungen als Menschen gleich uns. Wir, aufgewachsen in der Nachbarschaft jener polnischen Grenzbezirke, die den Westen des zaristischen Rußland darstellten, kannten sie als Schulkameraden, als Verkäuferinnen auf unseren Wochenmärkten, als Verwandte unserer Zimmerherren, als Freundinnen unserer Schwestern und Töchter. Innerhalb der zionistischen oder sozialistischen Jugendorganisationen tauchten immer Namen auf wie jene. die dem Leser dieser Tagebücher begegnen. In allen Orten unserer Emigration zwischen Holland und Palästina bezeichneten sie Menschen unseres alltäglichen Umgangs, Handwerker, Ladenbesitzer, Chauffeure, Ärzte, Funktionäre. Auch in Amerika hatten sich diese Namen kaum verändert, und nicht wenige entstammten der habsburgischen Monarchie, auf welche ja Städtenamen wie Krakau und Lemberg immer wieder hinweisen, heute Kraków und Lwów. Und wenn sich Leon Weliczker schließlich nach Gliwice in Schlesien begibt, um dort neu aufzuleben, hätte er ebensogut die Stadt Katowice nennen können, in deren Straßen ich als Schüler daheim war.
Wer immer unser Buch aufschlägt, wird wohl mit dem Wunsche kämpfen müssen, der sich ebenfalls bei Dante findet an diesem Tage nicht weiterzulesen. Mit diesen fünf Berichten hält er in der Hand fünf Proben des Abgrunds, über welchem unsere Zivilisation wie eine Brücke schwebt. Sie sind jenen Tiefenloten zu vergleichen, mit denen Naturforscher Schlamm und Erdproben aus den Meeresgründen heraufholen. Und die Gestalten, die auf solchem Meeresgrunde als Herren umherwandeln, haben samt und sonders menschliche Gesichter, wurden von deutschen Eltern erzogen, lernten schon als Kinder lesen und schreiben. Die Hölle, die sie in sich trugen und als echte Untermenschen über die Reichsgrenzen verbreiteten, ist das Inferno der kapitalistischen Wirtschaftswelt in ihrer letzten Phase, die wir Imperialismus und Faschismus nennen, ohne daß uns mit diesen Worten stets auch das Geläute der Todesglocke und das Geheul Gefolterter und Ermordeter im Ohr klingt. Und gerade weil wir in diesen fünf Dokumenten immer wieder auf die Entschlossenheit zum Widerstand treffen, der wir vorhin einen Satz entlehnten, dürfen wir uns nicht von der Erkenntnis abwenden, die der Lateiner in die Worte faßte: tua res agitur – deine Angelegenheit wird hier abgehandelt. Als deutscher Schriftsteller jüdischer Abkunft bin ich auf beiden Ebenen daheim, der großartigen des unbrechbaren Mutes wie auf der mit blinder Pflichterfüllung rasender Uralstürmerei. Und ich glaube, jeder Leser dieser Blätter, nichtjüdischer oder jüdischer Herkunft, muß irgendwie dies Gefühl teilen. .....
Inhalt
Leon Weliczker – Die Todesbrigade
Gusta Dawidsohn-Draengerowa – Tagebuch der Justyna
Janina Hescheles – Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens
Dorka Goldkorn – Erinnerungen an den Aufstand im Warschauer Ghetto
Titel der polnischen Originalausgaben:
BRYGADA ŚMIERCI
OCZYMA DWUNASTOLETNIEJ DZIEWCZYNY
PRZEMINELO Z OGNIEM
PAMIĘTNIK JUSTYNY WSPOMNIENIA UCZESTNICZKI POWSTANIA W
GETCIE WARSZAWSKIM
Übertragen von Viktor Mika
Mit einen Vorwort von Arnold Zweig
Einbandentwurf:
Wolfgang Brock
Verlag Rütten und Loening Berlin
1. Auflage 1958
2. Auflage 1959
3. [7.] Auflage 1960
4. Auflage 1960
5. Auflage 1960
6. Auflage 1961
7. Auflage 1962
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Wichtiger Hinweis
Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).
Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.
Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.