06 Februar 2023

Michail Scholochow: Sie kämpften für die Heimat

Leseprobe

Ist es die Möglichkeit?
Auf der Bank am runden Tisch wird eine Ecke frei. Ich setze mich neben das stramme Fräulein Massopust. Kubo schnipst mit den Fingern. "Eine Lage, Adolf! Wir haben einen Gast hier." Ehe ich mich umsehe, bin ich schon Mitglied einer Schnapsrunde. "Zum Wohl!" sagt Kubo. "Es leben die Stiefelputzer." In seinen Augen glitzern Lachfunken. Ich stürze den Schnaps hinunter und mime den Angetrunkenen. Unversehends umfasse ich die festen Hüften der Inspektorstochter. "Trink, Schatz! es ist bezahlt."
Jetzt funkelt in Kubos Augen die Eifersucht. Er war drauf und dran, das stramme Weibchen für sich einzunehmen. Ein kleiner, ungefährlicher Seitensprung, bitte sehr! Man hört so allerhand über die Qualitäten der Frau.
Daß ich ihm in die Quere komme, paßt ihm nicht ins Konzept. Eva Massopust thront wie eine zu Späßen aufgelegte Königin auf der Bank. Sie faßt meine Hand und löst sie vorsichtig von ihrer Hüfte. Sehr vorsichtig sogar. Ich muß ihren Rücken streicheln, ehe ich den heißen Fingern entschlüpfen kann.
"Gott!" sagt sie glucksend, "wie aufdringlich die jungen Kerle heutzutage werden, wenn sie bloß Schnaps riechen."
Sie fordert von Graupeter-Adolf eine neue Lage.
In dem Augenblick, da sich Kubo eine neue Zigarre ansteckt, blinzelt sie mir verheißungsvoll zu.
Mir wird heiß unter der Haardecke. Ist es die Möglichkeit? Oder bloß eine Schnapslaune? Sei es, wie es sei! Momentan habe ich Chancen hier. Der Räuberhauptmann macht sich. Er wird dem geleckten und geschniegelten Fuhrunternehmer vorgezogen. Für diese Gewißheit putze ich gern die Schuhe aller Dorfbewohner an einem Tag. Die nächste Runde geht auf mein Konto. "Was Süßes bitt' ich mir aus!"


Michail Alexandrowitsch Scholochow ist einer der bedeutendsten russisch-sowjetischen Schriftsteller, ein führender Vertreter des sozialistischen Realismus. Er wurde am 24. Mai 1905 in der Staniza Wjoschenskaja am Don (Gebiet Rostow) geboren und stammt mütterlicherseits von Kosaken ab, mit deren Tradition, Lebensweise und Folklore er eng verbunden ist. Bereits als Fünfzehnjähriger kämpfte er in der Roten Armee gegen weißgardistische Banden im Dongebiet. 1922 zog er nach Moskau, wo er als Arbeiter, Maurer und Lehrer tätig war, und wo er auch zu schreiben begann. Seine frühen Erzählungen, die den Kämpfen des Bürgerkrieges gewidmet sind, wurden in den Bänden "Flimmernde Steppe" und "Lazurfarbene Steppe" (beide 1926) zusammengefaßt. 1925 kehrte Scholochow nach Wjoschenskaja zurück, wo er heute noch lebt. Hier begann er mit der Niederschrift seines Hauptwerkes, des vierbändigen Romans "Der stille Don" (1928-1940). Das Schicksal des Kosaken Grigori Melechow, seine Liebe zu der schönen Aksinja, sein jahrelanges Schwanken zwischen den Fronten spiegeln meisterhaft und umfassend den schweren Weg der Donkosaken von 1913 bis in die Jahre des Bürgerkrieges. Nach dem dritten Band unterbrach Scholochow die Arbeit am "Stillen Don" und wandte sich mit "Neuland unterm Pflug" (I. Band 1932) dem aktuellen Thema der Kollektivierung der Landwirtschaft zu. 1959 erschien der abschließende II. Band. Während des Großen Vaterländischen Krieges seiner Heimat war Scholochow Frontkorrespondent. Neben Reportagen und Berichten begann er 1943 seinen Kriegsroman "Sie kämpften für die Heimat" zu schreiben, dessen 1959 erschienener Text 1969 um neue Kapitel erweitert wurde. 1957 veröffentlichte Scholochow die Meistererzählung "Ein Menschenschicksal", die wie fast alle seine Werke erfolgreich verfilmt wurde.
Michail Scholochow ist seit 1932 Mitglied der KPdSU und seit vielen Jahren Deputierter des Obersten Sowjets der UdSSR. Für sein in fünfundvierzig Sprachen übersetztes, weltweit verbreitetes Werk erhielt er mehrfach Staatspreise der Sowjetunion, 1960 den Leninfriedenspreis und 1965 den Nobelpreis. In der DDR erschienen Scholochows Bücher in zahlreichen Einzelausgaben und einer achtbändigen Werksausgabe.

Verlag Volk und Welt
Roman-Zeitung Nr. 303 (6/1975)
Aus dem Russischen von Hilde Angarowa

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.