11 März 2023

Eugen Uricaru: Die Insel im Fluß

Es ist Mitternacht, als Nichifor Goreac mit dem D-Zug aus Bukarest in der siebenbürgischen Kleinstadt eintrifft. Alles ist mehr oder weniger so, wie er es vor zwanzig Jahren verlassen hat, die alten Kastanien und die vom ewigen Regen zerfressenen Fassaden, die hundertzwanzig Stufen, die die Obere und die Untere Stadt miteinander verbinden, die Kirche und der Marktplatz und das Gelbe Haus, in dem er mit seinen Eltern damals wohnte. Auch seine Jugendfreunde leben noch hier, Uliana, die er liebte, und Ilie, mit dem Uliana heute verheiratet ist, und Hängănuş und andere über all das will Nichifor ein Buch schreiben, um die Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. Und danach wird er sich vielleicht auf der Insel im Fluß niederlassen, Bienen züchten und Honig produzieren.

Der rumänische Autor Eugen Uricaru hält in seinem Roman Rückschau auf die wechselvolle Zeit seit den späten vierziger Jahren, die er in menschlichen Schicksalen lebendig werden läßt, um so zu einem historischen Verständnis unserer Epoche zu gelangen.


Buchanfang

Er war gegen Mitternacht mit dem einzigen in O. haltenden Schnellzug aus Bukarest eingetroffen und ging nun über das Pflaster der von blühenden Kastanien gesäumten Straßen, zwischen alten Häusern entlang, deren Mauerwerk der Regen ausgewaschen hatte, er stieg die hunderteinundzwanzig Stufen von der Unteren Stadt zur Oberen Stadt hinauf, die dicht bei der Kirche mit der Turmuhr und den Puppen unvermittelt endeten. Er zählte sie stumm mit, nur von dem einen Gedanken beherrscht: Ob wohl da oben auf dem kahlen Erdfleck hinter der Mauer, die von der Treppe aus grau und drohend aussah, noch Glasscherben lagen? Seinerzeit waren die jungen Burschen, um ihre Männlichkeit zu beweisen, im Frühling dort hinaufgegangen, hatten eine Flasche Branntwein an den graublauen Steinen zerschlagen und sich dann hastig, erschrocken oder auch begeistert über ihren Mut – wer konnte das wissen –, auf den Friedhof zurückgezogen. Da roch es nach feuchter Erde und trockenem Eichenlaub, sie rauchten Zigaretten, die sie bei ihren älteren Brüdern stibitzt hatten, und erzählten einander erdachte oder eingebildete erotische Erlebnisse. Das Klirren einer Glasscherbe, an die er mit der Schuhspitze gestoßen war, beruhigte ihn, der Brauch hatte sich also gehalten. Was für Scherbenberge mußten sich in all den Jahren seither angesammelt haben! Er ging um die Kirche herum und stand plötzlich auf dem ihm so vertrauten Marktplatz, der verlassen im Dunkel lag. Die krumme Gasse war beleuchtet, wie früher, die Straßenlampe hing unter dem Fenster des Gelben Hauses, wo er seine Jugend verbracht hatte. Im Sommer neunzehnhundertsechsundvierzig, gleich nach dem Krieg, war er dort mit seinen Eltern eingezogen. Die große Dürre, die damals das gesamte Moldaugebiet heimsuchte, hatte sie aus der kleinen Heimatstadt vertrieben, in der es zwar viele Läden, aber für einen demobilisierten Flugzeugmechaniker keine Arbeit gab. 


Der rumänische Schriftsteller Eugen Uricaru (geboren 1946) ist seit dem Abschluß seines Studiums an der Philologischen Fakultät der Universität Cluj Mitarbeiter der Literaturzeitschrift Steaua, ebenfalls in Cluj-Napoca. Er veröffentlicht Essays und Übersetzungen in der literarischen Presse und verfaßt Szenarien für Spiel- und Dokumentarfilme. Bisher veröffentlichte er folgende Bücher:

Über Purpur (Erzählungen), 1974

Scheiterhaufen und Flamme (Roman), 1977

Antonia (Novellen), 1978

Die Insel im Fluß (Roman), 1978

In Erwartung der Sieger (Roman), 1981

Vladia (Roman), 1982

Memorial (Roman), 1983

Übersetzungen seiner Texte erschienen in der Sowjetunion, in Polen, Ungarn, Jugoslawien und Griechenland.

Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1985
Buchclub 65 - 1. Auflage 1985
Aus dem Rumänischen von Holda Schiller

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