29 April 2023

Gerhard Vogel : Marlies und Gerlinde - Geschichte einer Mädchenfreundschaft

Buchanfang:
Die neue Freundin
Langenthal trägt seinen Namen durchaus zu Recht. Unendlich lang und in ein schmales Tal eingebettet, erstreckt sich das Dorf zu beiden Seiten des Sprottenbaches. Die Häuser an seinen Ufern stehen weit auseinandergezogen, als wollten die Einwohner jede Berührung mit den Nachbarn vermeiden. Aber der Schein trügt! Und seit sich auch die letzten von ihnen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft „Helle Zukunft“ angeschlossen haben, sind sich alle noch nähergekommen.
Die Alten erzählen jedem Fremden mit wichtiger Miene, daß ihr Ort der längste des ganzen Bezirkes sei. Die Pioniere aber finden das nebensächlich und unwichtig. Für sie sind die neuen MTS-Bauten, die RS 30, die „Brockenhexen“, die Raupenfahrzeuge, die „Maulwürfe“, die Mähdrescher, die Mählader und Mähhäcksler und die riesenhaften Ackerpflüge der MTS-Brigade, aber auch die großen, modernen LPG-Viehställe, die Geflügelställe, der Mistkran und nicht zuletzt ihr Schulmaisfeld mit dem fast reifen „Bernburger Astra“ tausendmal interessanter als die Länge ihres Dorfes, die tatsächlich fünftausendzweihundert Meter beträgt. Ginge es nach den Pionieren, würde Langenthal jetzt „Neuleben“ heißen oder „Fortschrittshausen“ oder so ähnlich. Das paßt viel besser. Dann würde den Klassen drei und vier auch nicht mehr die dumme Geschichte mit dem th passieren. Das ist nämlich so: Weil Langenthal mit th geschrieben wird, schreiben viele von ihnen Tal auch mit th. Und das bringt dann Ärger. Lehrer Deutschmann erklärt immer wieder, daß das th in Ortsnamen ein Überbleibsel der alten Schreibweise ist, das man nicht eigenmächtig ändern darf. Gut – doch so etwas begreift man nicht von heute auf morgen. Schneller begreifen kann man dagegen die Sache mit dem Jammern und Wehklagen, das sich an bestimmten Tagen am Windmühlenberg hören läßt. Einige Unbelehrbare, Alte glauben noch an Geister. Die Jungen, die Klugen und Gebildeten aber wissen, daß das nur der Sturm ist, der um die Mühle fegt und an ihren klapprigen Flügeln zerrt. Mit dem Junker von Zehnewitz, der vor zweihundertsiebzehn Jahren wegen seiner Trunksucht die Mühle verkaufen mußte und ihr seitdem angeblich nachweint, hat das geradesoviel zu tun wie – wie ein Füllfederhalter mit dem neuesten Wetterbericht.


Geb. Knabe Verlag, Weimar
Knabes Jugendbücherei
Illustrationen und Umschlagentwurf von Hans Wiegandt

Auflagen:
1. Auflage 1959
2. Auflage 1960
3. Auflage 1961
4. Auflage 1963
5. Auflage 1965

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