13 Juni 2023

Erwin Strittmatter: Die blaue Nachtigall oder Der Anfang von etwas

Erwin Strittmatter zaubert für jene, die Spaß daran haben, "wie in ein Dickicht in eine Geschichte einzudringen", auf unverwechselbare Art die Welt seiner Kindheit und Jugend hervor. Er erinnert sich an seinen Großvater, den schlauen, einfallsreichen, stets Handel treibenden, beweist, wie man durch Diebstahl der Gerechtigkeit zum Triumph verhelfen kann, erzählt vom lesewütigen Onkel, der die auszutragenden Zeitungen zuerst selbst studieren mußte, von der kaffeetrinkenden Tante, die schließlich doch noch zum Schneewittchen wurde, und weiht uns in das Geheimnis der blauen Nachtigallen ein. Er zeichnet das Bild des Jungen, der abenteuerlustig seine Umgebung entdeckt, aufmerksam und kindlich unvoreingenommen über das Leben der Erwachsenen urteilt, des Bäckergesellen, der bis zur Erschöpfung für den Meister arbeiten muß und sich trotzdem das Staunen über die Schönheit der Natur bewahrt. Wie Blitzlichter werden Momente deutlich, in denen er sich eins fühlt mit Landschaft und Tier, die ihm schon früh als Sinnbild und Schlüssel des Poetischen erscheinen. 
Keine heile Kinderwelt baut Strittmatter vor uns auf. Er unternimmt, heiter und gelassen, eine Forschungsreise in jene Zeit, die für ihn mit der Vorstellung von Poesie und Schwerelosigkeit verbunden ist und über die er sagt: "... für mich war damals vieles rätselhaft und jeder Mensch war für mich eine Einmaligkeit und ein Rätsel." Das Kind betrieb ein "aufregendes Spiel mit Gesichts- und Standpunkten", wenn es die Gegend durch ein Fernrohr betrachtete. Weil es Strittmatter jetzt gelingt, durch einfühlsames Sich-Erinnern auf selbstverständliche Weise "in die Gefilde der Naivität" zurückzukehren, ohne dabei je die Realität zu verlassen, erreicht er eine neue, vielschichtige und poetische Weltsicht, in der Fabulierlust, Reflexionen und Biographisches untrennbar verschmelzen.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1. Auflage 1976
Abbildung "Am Waldrand" von Henri Rousseau
bb-Reihe Nr. 343
 

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