12 Juni 2023

Hubert Gerlach: Die Taube auf dem Schuppendach

Die schöne Frau Balle hat unter den Fliederbüschen gelegen und sich nicht mehr gerührt, kalt und starr ist sie gewesen, und ihr ehemaliger Gemahl Müller ist entsetzt davongerannt. Später hat er die Polizei angerufen, und die ist gekommen und hat alles höchst bedenklich gefunden, besonders dieser Rohwall mit seinen bohrenden Fragen und seinem Ärger, daß die Müllers ihn hindern, seinen Kriminalistenberuf bald wechseln zu können. Und nicht genug damit, daß Müller seinen Hut am Tatort zurückließ, er scheut sich auch nicht, Sulkin nach dem Leben zu trachten, der jetzt mit Balle verheiratet ist, und trotzdem hat Rohwall Sympathie für den Übeltäter, und auch der Leser ist ihm nicht gram, obwohl er weiß: So geht's nicht, Herr Müller, so kann man seine Sachen nicht ordnen. – Was Gerlach hier vorlegt, gewinnt dem Kriminalroman neue Seiten ab; das Buch ist humorvoll und ernst in einem, klug konstruiert und voll leisem Spott auf eben diese kluge Konstruktion

Buchanfang
Rohwall nannte den Vorort Zwielen eine unauffällige Stadt. Man arbeitete dort zu jeder Zeit mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der man am Abend hinter einem Glas Bier, in einem Kino oder im Theater saß. Es gab niemanden, dem daran gelegen war, Aufsehen zu erregen. Scheinbar mühelos wuchsen die neuen Häuser in die Höhe. Es gab keine besonders glänzenden Feste oder gesellschaftlichen Ereignisse, die die Augen der Welt auf Zwielen gelenkt hätten. Ebenso blieben Liebe, Haß, Klatsch, Ausschweifung in erträglichen Grenzen. Die Zahl der unehelichen Geburten überstieg nie den Durchschnitt anderer Städte. Das Theater spielte, was auch die Spielpläne der großen Ensembles der Republik ankündigten, nicht so sehr gut wie diese, aber gut genug, daß vor der Kasse geduldig Wartende Schlange standen. Es gab keine Skandale und keine Affären, die über die Grenzen der Stadt hinaus Aufmerksamkeit zu erregen vermochten. Man hätte auch vergebens auf die Meldung über eine Herzoperation im Zwielener Krankenhaus gewartet, doch nahm man es als selbstverständlich hin, daß zu jeder Zeit ein Arzt dort bereit war, einem die Steine aus der Gallenblase zu entfernen oder sonst eine Hilfe zu leisten, ohne auch nur einen Pfennig dafür zu berechnen.


Schutzumschlag, Einbandgestaltung u. 22 Illustrationen von Rolf F. Müller

Greifenverlag zu Rudolstadt

1. Auflage 1969
2. Auflage 1970
3. Auflage 1977
4. Auflage 1979




1983 auch erschienen in der
Reihe Greifen-Kriminalroman

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