30 Juli 2023

Richard Squires: Auf dem Kriegspfad – Aufzeichnungen eines englischen Offiziers

AN DEN LESER
Über zehn Jahre meines Lebens, die Jahre des heranreifenden Mannesalters, waren mit Deutschland verbunden. Wie Hunderttausende meiner Landsleute habe ich gegen den Nazismus gekämpft. Ich war in Deutschland zur Zeit der Kapitulation und erlebte die ersten Anordnungen der Sieger, die erste Reaktion der Besiegten. Ich hörte die öffentlichen Erklärungen unserer Besatzungsbehörden und beobachtete ihre Tätigkeit hinter den Kulissen. Während der langen Jahre des Krieges und insbesondere während der Zeit, die ich in Deutschland in der Britischen Rhein-Armee zubrachte, sammelte ich viele Erfahrungen und sah viele Dinge in einem anderen Licht. Bevor ich dieses Buch schrieb, habe ich meine eigenen Gefühle sorgfältig analysiert und meine Schlußfolgerungen überprüft. Alle unbedeutenden Erwägungen habe ich beiseite gestellt, um mir eine gewissenhafte und klar umrissene Meinung zum Kernpunkt der Lage zu bilden. Und dieser Kernpunkt ist: Unmöglich ist der Friede für England, der Friede für Europa, der Friede für meine Generation, wenn die fürchterlichen Kräfte des Krieges in Deutschland triumphieren.
Viel wird heutzutage über Deutschland geschrieben. Bekannte und weniger bekannte politische Führer, aktive Generäle und Generäle im Ruhestand, Bankiers und Industrielle, Konservative und Neofaschisten veröffentlichen ihre Erinnerungen über Deutschland. Die Öffentlichkeit hat die Wahl zwischen den lyrischen Ergüssen des Nazidiplomaten von Dircksen, den zänkerischen „Offenbarungen“ General Halders, den Memoiren Churchills und sogar den Erinnerungen des persönlichen Barbiers von Adolf Hitler.
Es steht nicht in meinen schwachen Kräften, mit dieser Papierflut zu konkurrieren. Ich bin weder Schriftsteller von Beruf noch ein Stratege von Ruf. Ich habe mich nie besonders für Politik interessiert. Mein Leben ist das des durchschnittlichen Engländers mit all seinen Sorgen und Freuden, seinen Hoffnungen und Enttäuschungen.
Und doch entschied ich mich, dieses Buch zu schreiben. Ich habe mich dazu entschieden, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, daß die Fragen der Regelung der Nachkriegsprobleme in der Welt längst aufgehört haben, das Monopol einer Kaste von Berufspolitikern zu sein, die in den Parlamenten und Generalstäben sitzen und ihre „Entschuldigungen“ in Form von Memoiren veröffentlichen. Für mich ist Europa weder ein Schachbrett, wie es von vielen westeuropäischen Staatsmännern betrachtet wird, noch sehe ich es als ein Häuflein Spielkarten an, wie das die prahlerischen Börsenspekulanten auf der anderen Seite des Ozeans tun. Für mich ist die Frage der Zukunft Europas mein eigenes, persönliches Schicksal und die Frage über Leben oder Tod von Millionen einfacher Menschen. Das ist der Grund, warum ich mich an diese mir ungewohnte Aufgabe, ein Buch zu schreiben, heranmachte. Ich habe darin versucht, die Erfahrungen und Gedanken des Durchschnittsmenschen wiederzugeben, der genauso wenig zu einer bestimmten Partei gehört wie ich, aber der genauso wie ich den Wunsch hat, nach den edlen Grundsätzen der Demokratie und des Friedens zu leben.
Als der Krieg 1939 begann, meldete ich mich freiwillig zum Dienst in den britischen Expeditionstruppen in Frankreich. Hätte mich an diesem denkwürdigen Tage jemand gefragt, warum ich mich zur britischen Armee gemeldet habe, so hätte ich, ohne auch nur im geringsten zu zögern, geantwortet: „Ich ziehe in den Kampf, weil ich den Frieden will, Frieden für mich und Frieden für jedermann, Frieden für London und Liverpool, Frieden für Paris und Amsterdam, Frieden, der nicht getrübt ist durch Kriegsberichte, Schüsse aus dem Hinterhalt oder Maschinengewehrsalven auf offenem Feld.“
In den Herbstmonaten des Jahres 1939 war jedem von uns alles sonnenklar. Nazismus bedeutete Krieg, Tod, Barbarei. Der Kampf gegen den Nazismus bedeutete Frieden, Leben, Vertrauen in die Zukunft. In jenen Monaten traf jeder von uns frei die Wahl zwischen Demokratie und Nazismus, zwischen endlosem, mörderischem Krieg und festem, dauerhaftem Frieden.
„Das ist der letzte Krieg!“ sagten meine Pariser Freunde zu mir. Wie grausam und wie spöttisch doch diese Worte heute klingen. Der Krieg ist vorüber, aber die langerwarteten Tage des Friedens sind noch nicht angebrochen. Kriegswolken ballen sich über der Welt. Das weitab gelegene Korea ist zum Manövergelände für die amerikanischen Generäle geworden. Heute bombardieren amerikanische Flieger die friedlichen Städte und Dörfer Koreas, morgen kann das Feuer, das in Korea entfacht wurde, auf andere Länder, andere Kontinente überspringen. Die modernen Träger der Kriegsfackel haben nur ein Ziel: aus ganz Europa ein zweites Korea zu machen.
Die Kräfte des Krieges bereiten jetzt in Deutschland ein neues Pulverfaß vor. Hier wurde mir klar: Wenn wir den von uns so lange ersehnten Frieden verwirklicht sehen wollen, müssen wir ihn selbst gewinnen. Mir wurde klar: Das Herannahen des Friedens durch die Ausführung des Willens der Befehlshaber unserer Besatzungsarmee zu beschleunigen, ist genauso unmöglich, wie das Gebot „Du sollst nicht töten“ in einem Lager zu predigen, das von mordsüchtigen Irren regiert wird. Ich war Soldat in der britischen Armee von Anbeginn des Krieges, zuletzt mit dem Rang eines Majors. Als Offizier darf ich nicht fragen „Warum?“. Heute versuchen unsere Generäle und ihre Hintermänner, die Gedanken der Menschen durch Lügenpropaganda zu vergiften, morgen werden sie vielleicht mir und meinesgleichen befehlen, auf die wahren Freunde des englischen Volkes, auf unsere Verbündeten während des Krieges, die Russen, zu schießen.
Ich will nicht versuchen, zu mutmaßen, was ich tun würde, wenn die Geschütze schon donnern würden. Wir befinden uns noch nicht im Krieg. Die Kanonen schweigen und wir haben noch Zeit, mit den Mitteln der Vernunft und der Überzeugung gegen die Wahnsinnigen zu kämpfen, die versuchen, einen Weltbrand auszulösen. Die Stimme der Pflicht und der Liebe zu meiner Heimat, die mich einstmals drängte, den Nazismus zu bekämpfen, sagt mir jetzt:
„Kämpfe heute für den Frieden, morgen wird es zu spät sein.“
Der Krieg bricht nicht auf der Straße aus oder im Parlament oder in Versammlungen der Bevölkerung. Er wird auf Geheimkonferenzen, in abgeschlossenen Büros, die nur wenigen Auserwählten bekannt und zugänglich sind, vorbereitet.
Die Kriegsbazillen brauchen zu ihrer Kultivierung besondere Bedingungen: strengstes Geheimnis, Straffreiheit und die Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit der einfachen Menschen gegenüber ihrem Schicksal. Der Krieg kommt über die Völker durch die Hintertür, aus abgeschlossenen Winkeln, wo schmutzige Politiker ihre abscheulichen Taten unbelästigt verrichten können. Der Krieg kann die Öffentlichkeit nicht ertragen. Der Krieg kann verhindert werden, wenn jeder anständige Mensch offen auftritt und sagt: Ich bin kein blinder Maulwurf, sondern ein freier Bürger in meinem eigenen Lande, ich sehe sehr wohl, wie berufsmäßige Provokateure versuchen, Zwietracht unter die Nationen zu säen; ich lasse mich nicht irreführen durch die Lügen über die Unvermeidlichkeit eines neuen „Krieges, um die Kriege zu beenden“. Wenn ich und mein Freund und Millionen anderer, die ich nicht kenne, aber die genauso denken und fühlen wie ich, das sagen, dann wird es keinen Krieg geben!
Aber wenn wir den Krieg verhindern wollen, müssen wir die gefährlichen Dünste der Kriegspropaganda aus unseren Köpfen vertreiben. Jeder von uns muß selbst. seinen Weg wählen.
Heute befinden wir uns am Scheidewege: dem Weg zum Krieg, zu Chaos und Vernichtung, und dem Weg zu einem langen, dauerhaften Frieden. Es ist Sache eines jeden, zwischen diesen beiden Wegen zu wählen. Ich will anderen die Tatsachen, die ich weiß, zur Kenntnis bringen, um damit zu helfen, die Schleier des Betrugs und der Lüge zu zerreißen, mit denen unehrliche politische Intriganten versuchen, ihre Schandtaten zu tarnen.

Titel des englischen Originals: On The War Path
Umschlagentwurf: Eickhoff Sat

Verlag Rütten & Loening Berlin

1. Auflage 1951 |  1. - 25. Tsd.
2. Auflage 1952 | 26. - 35. Tsd.

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