15 August 2023

Alexandru Ivasiuc: Der stumme Zeuge

Der dreizehnjährige Grigore folgt den Selbstgesprächen seiner Großmutter, die in einem verfallenen Patrizierhaus ihren Erinnerungen an eine unbeschwerte Mädchenzeit nachhängt, nur noch mit halbem Ohr. Er wird Zeuge erregender Geschehnisse, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. Die Dinge scheinen auf dem Kopf zu stehen. In den Geschäften herrscht Lebensmittelknappheit, aber auf dem schwarzen Markt ist alles zu haben. Ungekrönter Herrscher über die Stadt ist neuerdings der Sohn eines Säufers. Ein ehemaliger Adelssitz dient ihm als Residenz, seine Untergebenen sind Schmuggler und Spekulanten. Und die Staatsgewalt in der Person des Polizeikommissars Meseşan schaut tatenlos zu, wie diese Bande willkürlich die Versorgung reguliert und die Preise diktiert. Erst als bekannt wird, daß Mitglieder der Bande einen Unschuldigen getötet haben, greift der Kommissar ein und inszeniert einen zweiten Mord, um den ersten zu vertuschen. Die Stadt ist in hellem Aufruhr, und der Kommunist Dâncuş fühlt sich verpflichtet, im Namen der hungernden Bevölkerung Sofortmaßnahmen gegen die Schuldigen zu fordern. Aber ist seine Entscheidung in dieser kritischen Situation nicht etwas zu voreilig?
Spannend schildert Alexandru Ivasiuc Ereignisse aus der Zeit unmittelbar nach Kriegsende, die sich in einer kleinen rumänischen Stadt nahe der ungarischen Grenze zu einer Kraftprobe zwischen den alten und den neuen Mächten in seinem Lande ausweiteten.

Über den Autor
Alexandru Ivasiuc wurde 1933 in einer kleinen Stadt im Nordwesten von Rumänien geboren. Er studierte Philosophie und arbeitete eine Zeitlang an der amerikanischen Botschaft in Bukarest. Sein erster Roman, „Vestibul“, erschien 1967 (dt.: „Im Vorhof der Hölle“, 1972) und wurde mit dem Preis des Schriftstellerverbandes ausgezeichnet. In ihm kündigt sich bereits Ivasiues Vorliebe für die analytisch betrachtende Erzählweise an, die auch für seine folgenden Romane bis hin zu dem Erfolgsbuch „Die Vögel“ (1970) typisch bleibt. Der vorliegende, 1973 erschienene Roman bildet daher eine Ausnahme in Ivasiucs Schaffen, denn in ihm legt der Autor mehr Gewicht auf die Schilderung dramatischer Ereignisse, ohne jedoch die psychologische Gestaltung seiner Figuren zu vernachlässigen. Danach kehrte Ivasiuc zu seinem bevorzugten Thema, den Problemen des modernen Intellektuellen, zurück. Wie die vorhergehenden weisen auch seine letzten beiden Romane, „Erleuchtungen“ (1975) und „Der Krebs“ (1976), den Autor als einen klugen Beobachter aus, der sehr empfänglich ist für die entscheidenden geistigen und politischen Fragen unserer Zeit. Als Alexandru Ivasiuc bei dem Erdbeben vom 4. März 1977 ums Leben kam, verlor die rumänische Gegenwartsliteratur einen ihrer profiliertesten Vertreter.

Buchanfang
Bei Kriegsende ging mit der alten Frau Dunca eine tiefgehende Veränderung vor. Ihrer Umgebung fiel es nicht weiter auf. Aber für ihr Innenleben war es von großer Bedeutung, auch wenn sie nicht darüber sprach. Sie hörte auf, die Jahre nach den Ereignissen zu messen, die ihr Leben bestimmt hatten, nach Kriegen, Gebietsveränderungen, Machtwechsel, Wachstum und Schwinden von Vermögen und Positionen. Bis zum Jahre 1945 sagte auch sie, wie jedermann, »vor dem Krieg, nach dem Krieg« oder »zur Zeit des Kaisers«, »vor dem Memorandum«, »zur Zeit der Krise«. So wie auch ihr Vater, Dr. T. M., einer der Führer der Rumänischen Nationalpartei, gesagt hatte: »zur Zeit Bachs«, »zur Zeit Kálmán Tiszas«, »vor oder nach 1848«. Auch jener Onkel, der begeisternde Redner von Blaj, hatte die Jahre nach den Ereignissen gezählt, wie alle anderen ihrer Familie, deren Geschicke gleichfalls von diesen historischen Ereignissen bestimmt worden waren. Ebenso hatte das ihr Onkel getan, der Bischof; in seinem Haus hatte sie einen Teil ihrer Jugend verbracht.
In dem großen Saal, der mit den Porträts seiner Vorgänger auf dem Bischofsstuhl geschmückt war, präsidierte er bei jedem Festmahl. Diese gelehrten Köpfe, die als erste über die Latinität sprachen und sich in den hohen Sälen der großen romanischen Bibliothek über alte Schriften beugten, waren besessen von der Geschichte. Sie war ihr großer Stolz und zugleich das Mittel, sich vom Komplexen zu befreien, die ihnen ihre geduldete Existenz auferlegte. Zweihundert Jahre historischer Glaube an ......

Titel der Originalausgabe: APA (erschienen bei Editura Eminescu, Bukarest 1973)
Aus dem Rumänischen von Valentin Lupescu
Schutzumschlag, EinbandUwe Häntsch

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1978

und als berechtigte Ausgabe im Buchclub 65
1. Auflage 1978

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.