30 August 2023

Annemarie Reinhard: Ferien beim Rattenfänger

Sechs Erzählungen über die Entwicklung hier und heute. Da ist die Studentin, die ein Buch geschrieben hat. Als Zwölfjährige wurde sie für eine kleine Ge- schichte über den Jungen Ingo ausgezeichnet, nun er- lebt sie alle Stationen noch einmal, wird konfrontiert mit den Menschen, die mit ihm und mit ihr zu tun hatten.
In der heiteren Titelerzählung versteht ein alter Mann mit seinen weltverbessernden Ideen Kinder wie weiland der Rattenfänger von Hameln einzufangen.
Die ganz große und die kleine Liebe sind weitere Themen und nicht zuletzt das Thema „Arbeit“. Eine Sammlung fesselnder Erzählungen der 1976 gestorbenen Autorin.

Buchanfang
Ferien beim Rattenfänger

Auf mich hört eben keiner, das war schon immer so. Nun können wir sehen, wie wir Matthias wieder zur Vernunft bringen. Das wird sich geben, sagt Vater – aber ich kenne meinen Bruder. Vater müßte ihn auch kennen, sollte man meinen. Ja, müßte, sollte...
Wenn ich den Charakter meines Bruders zu analysieren versuche, fällt mir immer sein Weg über unsere Küchenbank ein. Matthias hatte gerade laufen gelernt. Er kletterte auf die Sitzbank in der Küche, dann marschierte er los: geradeaus, die Bank entlang, und wo sie aufhörte, marschierte er weiter. Er fiel runter, bumste mit dem Kopf ans Tischbein oder biß sich auf die Zunge, er brüllte nicht etwa, er rappelte sich hoch und marschierte geradeaus weiter, ein Stockwerk tiefer sozusagen, aber die Richtung stimmte. Beulen und blaue Flecken hat der Bengel gehabt, das kann man sich nicht vorstellen. Mir war's manchmal peinlich, wie die Leute ihn und uns angesehen haben, wenn wir mit Matthias unterwegs waren: als hätten sie uns im Verdacht, wir bleuten ihn jeden Abend mit dem Besenstiel durch. Ein Wunder, daß uns niemand wegen Kindesmißhandlung bei der Jugendhilfe angezeigt hat! Matthias ist ein Geradeausgeher, stur wie zehn Traktoren, und wenn ihm das Beulen einbringt noch und noch.
Dieses Kind für drei Wochen zu Opa Seltenreich schicken, das konnte nicht gut gehen. Er mußte einfach mit irgendeiner fixen Idee zurückkommen.
Und kaum war er wieder da, ging's denn auch los. Wir aßen Abendbrot, Rührei mit Pfifferlingen und Salat, da sagte Matthias: „Ich möchte einen Garten haben.“
Ich horchte gleich auf und dachte: Aha, und wunderte mich: Das also ist jetzt dran.
Vater kaute erst einmal gemächlich weiter, und als Matthias den gleichen Satz wiederholte, lachte er nur. „Einen Garten, so. Und ich möchte einen Swimmingpool.“
Matthias wollte keinen Swimmingpool, aber einen Garten. „Ich kann im Hof ein Stück umgraben.“ Er hatte, wie sich zeigte, alles schon ziemlich genau geplant. „Die Ecke links vorn hat fast den ganzen Tag Sonne. Da kann ich Rosen pflanzen.“

Inhalt
Ferien beim Rattenfänger ..... 5
Nicht abzulegen: Akte über Ingo ..... 24
Abschied vom großen Bruder ..... 60
Die erste Nacht am Meer ..... 78
Der Kraftakt ..... 95
Heimfahrt in Nacht und Nebel ..... 117

Illustrationen: Konrad Golz
Für Leser von 12 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin

1. Auflage 1980

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