14 September 2023

Franz Hessel: Spazieren in Berlin – Beobachtungen im Jahr 1929


Ich darf in diesen „ernsten Zeiten“ das Spazierengehen getrost empfehlen. Es ist wirklich kein spezifisch bürgerlich-kapitalistischer Genuß. Es ist ein Schatz der Armen und fast ihr Vorrecht. Gegen den zunächst berechtigt erscheinenden Einwand der Beschäftigten: „Wir haben keine Zeit, spazierenzugehn!" mache ich dem, der diese Kunst erlernen oder nicht verlernen möchte, den Vorschlag: Steige gelegentlich auf deinen Wegen eine Station vor dem Ziel aus dem Autobus oder Auto und ergehe dich ein paar Minuten...
Es ist das unvergleichlich Reizvolle am Spazierengehn, daß es dich ablöst von deinem mehr oder weniger leidigen Privatleben. Du verkehrst, du kommunizierst mit lauter fremden Zuständen und Schicksalen ...
Der richtige Spaziergänger ist wie ein Leser, der ein Buch nur zu seinem Zeitvertreib und Vergnügen liest ein selten werdender Menschenschlag heutzutage, da die meisten Leser in falschem Ehrgeiz wie auch die Theaterbesucher sich für verpflichtet halten, ihr Urteil abzugeben (ach, das viele Urteilen! Selbst die Kunstrichter sollten lieber weniger urteilen und mehr besprechen. Schön wär's, wenn Kritiker, was sie behandeln, besprechen könnten wie Zauberer die Krankheiten). Also, eine Art Lektüre ist die Straße. Lies sie. Urteile nicht. Finde nicht zu schnell schön und häßlich. Das sind ja alles so unzuverlässige Begriffe. Laß dich auch täuschen und verführen von Beleuchtung, Stunde und Rhythmus deiner Schritte...
Aus: Franz Hessel, Die Kunst spazierenzugehn (1933).

Gesamtgestaltung: Heide Lüders

Buchverlag Der Morgen, Berlin

1. Auflage 1979  

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