Buchanfang:
ILSE AICHINGER * 1921 in Wien
Engel in der Nacht
Das sind die hellen Tage im Dezember, die ihre eigene Helligkeit durchschauen und darum immer heller werden, die ihrer Blässe zürnen und ihre Kürze als Verheißung nehmen, die von den langen Nächten genährt sind, stark genug, in Sanftmut sich selbst zu überstehen, stark genug, schwach genug und mild. Das sind diejenigen, die aus der Schwärze sonnig werden und nur daraus. Es sind nicht viele. Denn wenn es viele wären, geschähen auch zu viele seltsame Dinge, zu viele Kirchturmuhren würden sich ganz einfach in Gottes eigene Augen verwandeln. Darum sind diese Tage selten: damit die seltsamen Dinge seltsam bleiben, damit die Leute, die aus dem Krieg gekommen sind, nicht zu oft Schmerzen haben an ihren abgeschossenen Gliedern und nicht zuviel in Händen halten, die schon längst abgefroren sind. Daß sie nicht zuviel wissen von der Nacht, die stillt. Aber manchmal gibt es solche Tage Vögel, die vergessen haben, nach dem Süden zu fliegen. Sie breiten ihre hellen Flügel über die Stadt, und die Luft zittert vor Wärme, sie machen unseren Hauch noch einmal unsichtbar, bevor es friert. Und wenn es soweit ist, sterben sie schnell. Sie wollen keine lange Dämmerung und keine roten Wolken, sie verbluten nicht offen. Sie fallen von den Dächern, und es ist finster. Vielleicht, wenn diese verirrten Vögel nicht wären, diese hellen Tage im Dezember, gäb es auch keinen, der noch an Engel glaubt, wenn alle anderen schon hinter seinem Rücken lachen, der die Flügel hat rauschen hören vor Tag, als alle anderen nur die Hunde bellen hörten.
Meine Schwester war schuld daran. Sie war es, die mich an dem finsteren Morgen aus dem Bett gerissen und ans Fenster gezerrt hatte. „Da, da! Da fliegen sie! Hast du es rauschen hören? Siehst du nicht ihre Schleppen? Wach auf! Du schläfst zu lang!“ Und später, wenn Weihnachten schon ganz nahe war und die Bäume auf den Plätzen ihre Nadeln verloren, noch ehe sie verkauft waren: „Jetzt ist schon Silber in der Luft, jetzt kommt das Kind bald nach!“ Wenn ich sagte: „Es regnet!“, lachte sie verächtlich. „Du schläfst zu lang!“ Zu lang, immer um den Augenblick zu lang, in dem die Engel um das Haus flogen!
Ich hatte schon lange begonnen, den Schlaf wie den Tod zu fürchten. Was ist denn Sterben anderes als die Engel zu versäumen? Mit aufgerissenen Augen lag ich wach und wartete auf das Rauschen der Flügel, auf das Silber in der Luft. Ich schlich ans Fenster und starrte hinaus, aber ich hörte nur die Betrunkenen unten rufen, und einmal schrie einer von ihnen „Halleluja!“ Meine Schwester war längst eingeschlafen. Ich hörte es ein Uhr schlagen, zwei Uhr – ich zerbiß mein Kopfpolster und nickte ein. Ich erwachte wieder. Es sah jetzt fast so aus, als wäre eine Spur von Silber in der Luft. Ich sprang auf und holte Holz aus der Kiste, warf es in mein Bett und legte mich darauf. Aber noch ehe es drei Uhr schlug, schlief ich auf den Scheitern. Und am Morgen war meine Schwester wieder früher wach als ich. Sie hatte diesmal die Spitzen der Flügel gesehen, und es wäre noch viel mehr gewesen, hätte sie nicht ihre Zeit damit vertan, mich wachzurütteln.
„Habt ihr den Engel gesehen?“ Um diese Zeit begannen sie mich in der Schule zu höhnen, um diese Zeit hätte ich nicht mehr daran glauben dürfen, damals hätte ich die dicken, kleinen Engel von meinen Schultern schütteln müssen, aber ich lachte nur. „Ihr schlaft zu lang!“ Von da ab begannen mich meine Engel zu überflügeln. Alle, die sagten: „Es gibt keine!“, schliefen zu lang, die ganze Welt war ein Heerlager von Schlafenden geworden, über dem Engel kreisten.
An diesem Tag hatte mich meine Mutter abgeholt; die Mutter lebte nicht bei uns, aber sie kam von Zeit zu Zeit, um mich aus der Schule zu holen, und begleitete mich ein Stück heim. Manchmal sprach sie zu mir wie zu einem Erwachsenen. An diesem Tag erzählte sie mir, daß sie nächtelang wach lag und nicht schlafen konnte. Ich liebte meine Mutter, und wenn ich einem Menschen auf der Welt mehr Glauben schenkte als meiner Schwester, war sie es. Wenn meine Mutter wach lag, mußte sie von den Engeln wissen. Ich erinnere mich genau, ich höre es, ich sehe es vor mir. Wir gehen gerade über den Platz, wo die Baume verkauft werden, und der Himmel über dem Platz ist zu hoch für den Dezember, und der Mann bei den Bäumen ist eingeschlafen. Es ist ein warmer, trauriger Tag, ein verirrter Vogel. ......
Inhalt:
• ILSE AICHINGER
Engel in der Nacht …….. 6
• HEINZ ALBERS
Im Spiegel der Jahre …….. 14
• STEPHEN VINCENT BENET
Nach Ägypten …….. 18
(aus dem Englischen übertragen von Ulrike Piper)
• BLAISE CENDRARS
Weihnachten in Rotterdam …….. 30
(aus dem Französischen übertragen von Lotte Frauendienst)
• KARL-HEINZ FLAMM
Ein König kommt vorbei …….. 42
• GERD GAISER
Auf dem großen kalten Strom …….. 46
• KLAUS BERND HOFFMANN
Die Christvesper in Krachtsheide …….. 60
• LANGSTON HUGHES
Unterwegs …….. 66
(aus dem Amerikanischen übertragen von Peter Sulzer)
• BENJAMIN JÖRGEN
Wohlgefallen an Bratäpfeln …….. 71
• RICHARD KLAUS
Das Fest der Kinder …….. 75
• SIEGFRIED LENZ
Risiko für Weihnachtsmänner …….. 88
• BRUCE MARSHALL
Ein Weihnachtsgruß…….. 93
(aus dem Englischen übertragen von Ernst Sander)
• KAJ MUNK
Ernste Weihnacht (1938) …….. 106
(aus dem Dänischen übertragen von Thyra Dohrenburg)
• GISELA POPP
Das Christkind starb auf dem Weihnachtsmarkt …….. 110
• PETER-PAUL SÄNGER
Ikone zum Christfest …….. 114
• WILLIAM SAROYAN
Am dritten Tag nach Weihnachten …….. 131
(aus dem Amerikanischen übertragen von Maria von Schweinitz)
• VILLY S0RENSEN
Fiktion …….. 141
(aus dem Dänischen übertragen von Klaus Möllmann)
• DYLAN THOMAS
Weihnachtsgespräch …….. 149
(aus dem Englischen übertragen von Erich Fried)
• MARTIN WALSER
Überredung zum Feiertag …….. 156
• EUDORA WELTY
Der gewohnte Weg …….. 158
(aus dem Amerikanischen übertragen von Franz Simeth)
• ANTHONY C. WEST
Kein gemästetes Kalb …….. 168
(aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Schnack)
• ARNOLD ZWEIG
Es geschah zu Bethlehem …….. 184
• JOHANNES HILDEBRANDT
Die Weibnachtsbotschaft in den Evangelien …….. 193
• Selbstgespräch …….. 201
• Quellenverzeichnis …….. 204
Ausgewählt und herausgegeben von Jörg Hildebrandt
mit einem Holzschnittzyklus von Helena Scigala
Evangelische Verlagsanstalt, Berlin
1. Auflage 1973
2. Auflage 1984
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