20 Februar 2024

Alfred Wellm: Der Hase und der Mond – Namibische Fabeln und Märchen

DIESE FABELN UND MÄRCHEN
kommen aus einem Land, das sehr weit von uns ab liegt, aus Namibia, aus dem Südwesten Afrikas. Ich habe sie gesammelt und nacherzählt. Aber vielleicht wollt ihr erfahren, wie ich daraufgekommen bin.
Ich lernte eines Tages Marcus, Clefton, Esme, Sio und viele andere namibische Kinder kennen. Sie waren noch klein, hatten sehr dünne Beine und dicke Hungerbäuche, und sie hatten schon viel Grausames durchgemacht. Denn Namibia ist ja nicht frei. Ihre Eltern hatten mit ihnen, um sich zu retten, das Land verlassen müssen, und so hatten sie lange in Flüchtlingslagern gelebt. Aber auch dort waren sie sich ihres Lebens nie sicher gewesen, denn oft waren südafrikanische Soldaten über die Grenze gekommen und hatten die Lager überfallen. Esme, sie war damals vier Jahre alt, hatte mit angesehen, wie ihre Eltern und ihr Bruder erschossen wurden. Viele, sehr viele Kinder haben ihre Eltern verloren. Andere Kinder haben noch Narben an den Armen, den Beinen oder auf dem Rücken, die von Gewehrkugeln oder Bombensplittern herrühren. Eine Schar solcher Kinder also zog nun eines Tages in ein Kinderheim, das in einem meiner Nachbardörfer steht. Sie haben sich dort schnell erholt, und sie lernten in erstaunlich kurzer Zeit unsere Sprache sprechen, so daß wir uns bald gut über alles unterhalten konnten. Ich habe sie oft besucht, oder sie kamen zu mir – sie können anmutig tanzen und laut und lebhaft singen.
Aber ich stellte bald fest, daß sie gar keine Märchen kannten. Das war mir ganz unerklärlich. Doch dann erfuhr ich, daß sich ja vieles in der Lebensweise der namibischen Menschen verändert hat, daß man ihnen ihre Herden und das Land genommen hat und sie bei den weißen Farmern arbeiten mußten. Und daß es ihnen verboten worden war, im Kraal (im Hirtendorf) ihre Feste zu feiern und sich am Feuer zu versammeln, wie sie das ja früher immer getan hatten. Sie hatten getanzt und gesungen oder am Feuer gesessen und ihre Mythen, Fabeln und Märchen erzählt. Aber das alles durften sie nicht mehr. So war es schließlich gekommen, daß ihre Erzählungen verlorengingen. Und nicht nur das, sondern auch ihre alten Bräuche und viele ihrer Lieder und Tänze sind ihnen auf diese Art genommen worden.
Diese Informationen haben mich tief erschüttert. Ich habe mir daraufhin alte Bücher schicken lassen, in denen Aufzeichnungen von Missionaren veröffentlicht waren, die schon vor der Kolonialzeit dort gelebt hatten und die Menschen zum Christentum hatten bekehren wollen (z.B. Briefe von G. Krönlein und anderen). Da stellte ich fest, daß die namibischen Stämme früher einen sehr reichen Erzählschatz gehabt haben. Und das ist gar nicht verwunderlich, denn sie waren einst mit ihren Rinderherden viel umhergezogen und hatten mit zahlreichen anderen Stämmen und Völkern Berührung gehabt und ihre eigene Kultur somit ständig bereichert. Gefielen ihnen die Mythen und Fabeln der anderen, so übernahmen sie diese und erzählten sie in ihrer Weise. Sie erzählten gern, und in jedem Kraal gab es wahre Erzählkünstler unter ihnen. Das wiederum bereicherte ihre Sprache. Ja, manche namibischen Stämme haben eine Sprache, die an Ausdruckskraft und -vielfalt wahrscheinlich der unseren überlegen ist.
Ich habe die Aufzeichnungen der Missionare immer wieder gelesen. Manches war nur bruchstückhaft niedergeschrieben, aber es gab einen Einblick in diese Welt. Außerdem habe ich an vielen Nachmittagen mit einem Kreis namibischer Frauen zusammengesessen, mit Ndahafa, Nambata, Alina, Franzina und Elina, und wir haben uns über ihre Heimat unterhalten, über den Kampf um die Befreiung Namibias, aber auch über die Tiere und Pflanzen und über das Leben dort. So daß ich mich schließlich daranmachen konnte, ihre früheren Fabeln und Märchen nachzuerzählen. Dies hier ist nur ein kleiner Teil davon. Ich bin noch bei der Arbeit, später will ich euch einmal ein dickes Buch vorlegen.

Lohmen, Juli 1984
Alfred Wellen


Inhalt:
Vorwort 5
Die alte Frau und die Ziege 9
Der Ursprung des Todes 12
Der Pavian und die Schlange 14
Vom Löwen, der sich in eine Frau verwandelte 17
Der Leopard und der Widder 24
Warum der Reiher einen geknickten Nacken hat 27
Der Hase und der Löwe 30
Warum der kleine Fuchs schneller als der Löwe laufen kann 33
Vom kranken Löwen, der Hyäne und dem schlauen Schakal 35
Wie der Schakal den Löwen überlistete 37
Das Ungeheuer 39
Das Weisheitskrämerchen 44
»Genug!« sagten die Damara 50
Der Affe und das Krokodil 56
Namibische Sprichwörter 59

Illustrationen von Eva Natus-Šalamoun
Für Leser von 9 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1985
2. Auflage 1986
3. Auflage 1987
4. Auflage 1988
5. Auflage 1989

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