02 Februar 2024

Wolfgang Held: Blaulicht und schwarzer Adler – Beinahe eine Kriminalgeschichte

Buchanfang:
„Und sowas nennt sich nun Sommerferien!“ Harry Molech, versetzt in die achte Klasse, strohblond und sommersprossig, zog geräuschvoll die Nase hoch. Mißmutig musterte er den vollen Wassereimer vor seinen nackten Zehen, dann den an der Bordsteinkante geparkten, lindgrünen Trabant und schließlich seinen einzigen Zuhörer, den fuchsigen Kater Amadeus, der dem Rentnerehepaar Kronenbichler aus dem Erdgeschoß gehörte. Der frühe Morgen spannte einen hohen, blauen Himmel über die Ziegeldächer. In den Sträuchern der Vorgärten schilpten Spatzen einander die Nachricht zu, daß Amadeus zu erwarten sei, und vor der Konsumverkaufsstelle an der Straßenecke schepperten Milchflaschen in Blechkästen. Zwei noch ein wenig verschlafene Männer luden die Behälter von einem Lastwagen und stapelten sie neben dem Eingang auf. Durch die blanke Schaufensterscheibe konnte man drinnen über dem Süßwarenregal eine Uhr erkennen. Sie ging auf die Minute genau: Fünf Uhr sechsundvierzig!
Harry Molech sah zu, wie Amadeus gelangweilt seine Pfoten leckte. „Du hast's gut. Ein Kater müßte man sein“, seufzte er, holte tief Luft und angelte mit beiden Händen den triefnassen Schwamm aus dem Eimer. Sekunden später ergossen sich Sturzbäche vom Dach des Autos über die Scheiben und Seitenflächen. Amadeus suchte schleunigst nach einer weniger feuchten Umgebung. Sein Katerverstand sagte ihm, daß der Junge aus dem ersten Stock an diesem Julimorgen kein fröhlicher Spielgeselle sein würde. Der Sohn des Antennenbauers Willi Molech war bis in den letzten Winkel seines Herzens hinein enttäuscht. Schon als der Frühling das erste zarte Grün in die Gärten und auf die Wiesen gehaucht hatte, waren die zu jener Zeit noch wochenfernen Tage der großen Ferien wie buntschillernde Seifenblasen durch seine Träume gesegelt. In seiner Klasse gehörte Harry nicht zu den Glücklichen, die eine Zwei in Mathematik oder Russisch ohne Gehirnstrapaze schafften. Er mußte für jede gute Zensur büffeln und Tag für Tag mit jenem zähen, unsichtbaren Teufelchen fertigwerden, das es listig darauf anlegte, Jungen oder Mädchen von den Schulaufgaben fort ins Schwimmbad, zum Spielen, vor den Fernsehapparat, ins Kino oder sonstwohin zu locken. Harry war hart geblieben, jedenfalls fast immer. Er hatte sich vorgestellt, daß ein gutes Zeugnis zum Abschluß des Schuljahres wie ein Schlüssel für .........

Illustrationen und Umschlagentwurf von Hans Wiegandt
Für Leser von 10 Jahren an

Gebrüder Knabe Verlag, Weimar
Reihe: Knabes Jugendbücherei

1. Auflage 1969
2. Auflage 1970
3. Auflage 1974

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