20 März 2024

István Kormos: Die goldene Tulpe – Märchen aus Ungarn

Klappentext:
Die durch ihre Phantasiefülle, Anmut und kraftvolle Schönheit berühmten ungarischen Märchen haben in dieser Sammlung eine würdige Darstellung gefunden. Für die ungarischen Volksmärchen war es von Vorteil, daß sie der literarischen Bearbeitung entgangen sind; daher muten sie so urwüchsig an. Sie wirken unmittelbar und üben einen großen Einfluß auf die Phantasie des Kindes aus, die sich ja ähnlich frei und ungebunden wie die Phantasie des Volkes ergeht. Die ungarischen Volksmärchen erzählen von guten und bösen Geistern, von Zauberwesen und Feen, von Prinzen und Prinzessinnen, die sich nach vielen Abenteuern glücklich vereinen. Aber noch häufiger ist es ein armes Mädchen, das den Prinzen zum Mann nimmt, oder ein armer Bursche, der durch Tapferkeit und durch Klugheit die Hand der schönen Königstochter gewinnt. Andere Beiträge entzücken durch ihre derbe Spaßhaftigkeit. Der Band wird auch dem Liebhaber lehrhafter Stücke Freude bereiten.

Buchanfang:
DIE GOLDENE TULPE
Es war einmal, siebenmal sieben Länder weit, hinter dem großen, großen Meer, ein König, der hatte einen Sohn. Als dieser Prinz zum Jüngling herangewachsen war, sagte er zu seinem Vater: „Lieber Vater, ich will nun fortgehen und nicht eher wiederkommen, als bis ich das schönste Mädchen der Welt gefunden habe; die soll meine Frau werden.“
„Gut, mein Sohn“, sagte der König, „geh in Gottes Namen, das Glück begleite dich auf deinen Wegen.“
Der junge Prinz ging von des Vaters Burg hinab, wanderte über Berg und Tal und kam plötzlich in einen finsteren Wald, und als er in diesem wilden Walde so für sich hin ging, sah er in der Spur eines Ochsenhufes ein Fischlein, das quälte sich sehr, denn es war am Verschmachten. Mit einemmal begann das Fischlein zu sprechen und sagte zu dem Prinzen: „Befreie mich aus dieser Pfütze, lieber Jüngling. Bring mich zum Fluß, denn hier muß ich sterben.“
Der Jüngling nahm das Fischlein aus der Hufspur und trug es an einen Fluß. Da sagte das Fischlein: „Nimm eine Schuppe von mir, bewahre sie auf, und wenn dir irgendwo ein Unglück zustößt, wirf sie ins Wasser des Flusses, und ich werde sofort an Ort und Stelle sein und dir helfen.“
Der Prinz nahm eine Schuppe von dem Fischlein, warf das Fischlein ins Wasser und ging seines Wegs. Als er eine Weile gegangen war, sah er einen schwarzen Raben auf einem Baum im Dickicht der Zweige verstrickt, der vergebens mit den Flügeln um sich schlug und mit den Füßen strampelte er konnte sich nicht befreien. In seiner Not rief der Rabe dem Prinzen zu: „Befreie mich, lieber Jüngling, du wirst es nicht. bereuen.“
Der Prinz kletterte auf den Baum und befreite den Raben; der riß sich mit dem Schnabel eine Feder aus dem Flügel, gab sie dem Prinzen und sagte zu ihm: „Gleiches wird mit Gleichem vergolten, Jüngling. Wenn du in große Not gerätst, schwinge diese Feder, und ich werde sofort da sein.“
Der Prinz verabschiedete sich von dem Raben und ging seines Wegs.
Plötzlich sah er einen grauhaarigen alten Mann an einer Quelle stehen. Er hätte gerne daraus getrunken, aber er konnte sich nicht bücken.
Darum rief er den Prinzen herbei: „Hilf mir, lieber Jüngling, ich verschmachte vor Durst und kann mich nicht bücken.“
Der Prinz nahm seinen Helm ab, füllte ihn mit Wasser und gab dem alten Mann zu trinken.
„Du hast mir eine große Wohltat erwiesen“, sagte der alte Mann. „Sieh, ich gebe dir zwei Haare, und wenn du irgendwo in Not gerätst, übergib sie dem Wind. Die beiden Haare werden zu mir zurückfinden und solltest du dich auch am anderen Ende der Welt befinden, ich werde kommen und dir helfen.“
Der Prinz verwahrte die beiden Haare und nahm Abschied von dem alten Mann. Dann ging er weiter, und nicht lange danach hatte er das Ende des Waldes erreicht. Hinter dem Walde gelangte er in eine große Stadt. Vor Verwunderung ging ihm fast der Atem aus, denn die ganze Stadt war in Trauerflor gehüllt.
Auf der Straße traf er ein kleines Männlein, dessen Bart auf der Erde schleifte; das fragte er: „Sagt mir doch, lieber Mann, wen betrauert denn diese Stadt, daß sie so viele schwarze Fahnen aufgezogen hat?“
„Ach, mein Sohn“, sagte der kleine Mann, „wir haben allen Grund dazu. Der König hat eine Tochter, der niemand auf der ganzen Welt an Schönheit gleichkommt. Und nun hat sie sich in den Kopf gesetzt, nur den zu heiraten, der sich vor ihr so verstecken kann, daß sie ihn nicht findet. Wer sich unterfängt, sein Glück zu versuchen, muß drei Proben bestehen. Wenn ihn die Königstochter zweimal findet, so hat es noch keine Not, aber wenn sie ihn auch zum drittenmal findet, so kommt sein Kopf auf den Spieß. Bis jetzt haben neunundneunzig ihr Glück versucht, und alle neunundneunzig Köpfe stecken nun an Spießen. Probier auch du es, mein Sohn, warum sollte dein Kopf nicht der hundertste sein.“
Der Prinz sprach: „Entweder wird es einen hundertsten geben oder nicht; wenn das Mädchen wirklich so schön ist, will ich mein Glück wohl versuchen.“
Just in diesem Augenblick kam in einer sechsspännigen Kutsche ein Mädchen dahergefahren von so wunderbarer Schönheit, wie sie der Prinz noch nie gesehen hatte. Ihre Schönheit war so blendend, daß ihm die Augen flimmerten, als er sie ansah.
Der Prinz fragte den Zwergmann: „Wer ist das Mädchen, lieber Mann?“
„Das ist die Königstochter“, antwortete das Männlein.
Nun, mehr begehrte der Prinz nicht zu wissen. Er ging schnurstracks in das Königsschloß, trat vor den König hin und sprach zu ihm: „Gnädigster König, wie ich höre, haben neunundneunzig Jünglinge ihr Glück versucht. Man lebt und stirbt nur einmal, laßt auch mich mein Glück versuchen.“

Inhalt:
Die goldene Tulpe ...... 5
Das Salz ...... 13
Von Kalamon, der den Wind fesselte ...... 18
Prinz Ohnegleichen ...... 45
Schlangenhold und Tatarenstark ...... 61
Der Speckbaum ...... 78
Rosmarin und Viola ...... 92
Die Quelle des Glücks ...... 100
Der fliegende Palast ...... 116
Sohn der weißen Stute ...... 140
Das Mäntelchen ...... 151
Der Talerhut ...... 156
Der Schwarze Schneeberg ...... 162
Immer so ...... 177

Aus dem Ungarischen übertragen von Mirza Schüching und Géza Engl
Illustrationen, Einband und Schutzumschlag von Agnes Molnár

Altberliner Verlag Lucie Groszer, Berlin
1. Auflage 1962  [1. - 15. Tsd.]
2. Auflage 1964  [16. - 30. Tsd.]
3. Auflage 1965  [31. - 45. Tsd.]
4. Auflage 1968  [46. - 60. Tsd.]
5. Auflage 1971

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