22 März 2024

James Fenimore Cooper: Der Wildtöter – Erster Band des „Lederstrumpf“

Buchanfang:
Die Begebenheiten, die wir hier erzählen wollen, spielten sich in den Jahren zwischen 1740 und 1745 ab, zu einer Zeit, als sich die besiedelten Teile des Landes auf einen schmalen Landstrich zu beiden Seiten des Hudsonflusses und auf die sogenannten „Nachbarschaften“ am Mohawk- und am Schohariefluß beschränkten. Damals reichte die Wildnis nicht nur bis an die Ufer des Hudson, sondern bis tief nach Neuengland hinein. Sie bot den geräuschlosen Mokassins der Indianer auf ihren geheimen und oft blutigen Kriegspfaden Unterschlupf und Sicherheit.
Ein Blick aus der Vogelperspektive zeigte nichts als weitausgedehnte Wälder, von den glitzernden Flächen großer Seen durchsetzt und den gewundenen blanken Bändern zahlreicher Ströme durchschnitten. Nur längs der Küste zog sich ein schmaler Streifen bebauten Ackerlandes hin.
Welche Veränderung auch immer der Mensch auf Erden schaffen mag, der Kreislauf der Jahreszeiten bleibt sich ewig gleich. Seit Jahrhunderten wärmte die Sommersonne die Wipfel der uralten Eichen und Föhren und sandte ihre belebende Glut bis tief hinab zu den weitverzweigten zähen Wurzeln.
An einem wolkenlosen Junitag, an dem die Sonne die dichtbelaubten Wipfel der Urwaldriesen in strahlendes Licht tauchte, waren im Walde plötzlich die Stimmen zweier Männer zu hören, die einander aus einiger Entfernung etwas zuriefen. Sie schienen sich verirrt zu haben. Kurz darauf bahnte sich der eine der beiden einen Weg aus dem sumpfigen Dickicht, in das sie geraten waren, auf eine Lichtung, die durch gestürzte Bäume oder Waldbrände entstanden sein mochte.
„Hurra, Wildtöter!“ rief der Mann. „Endlich wieder Luft zum Atmen und Tageslicht – da drüben ist auch schon der See!“
Die Worte waren kaum ausgesprochen, als auch sein Gefährte die Büsche über dem sumpfigen Gelände auseinanderbog und ebenfalls auf die Lichtung hinaustrat. „Kennst du diese Stelle, Harry, oder freust du dich nur so, weil du die Sonne wiedersiehst?“
„Beides, Wildtöter, beides! Die Sonne ist ein nützlicher Freund. Sie hat uns als Kompaß gedient und uns die Richtung wiederfinden lassen. Es wäre unsere Schuld, wenn wir uns jetzt noch einmal verirrten. Außerdem will ich nicht Harry Hurry heißen, wenn dies nicht die Stelle ist, auf der landsuchende Siedler vergangenen Sommer eine Woche gelagert haben. Sieh dort das dürre Strauchwerk von ihrer Schutzhütte, und hier ist auch die Quelle. Übrigens sagt mir mein Magen, auch ohne die Sonne, daß Mittagszeit ist. Es muß halb eins sein. Also heraus mit deinem Quersack! Wir wollen unser Uhrwerk für die nächsten sechs Stunden wieder aufziehen.“
Bald saßen die beiden Männer bei ihrer einfachen, aber kräftigen Mahlzeit.
Wir wollen ihre Mittagspause benutzen, um sie dem Leser vorzustellen, denn sie werden in unserer Geschichte eine bedeutende Rolle spielen.
Der mit Harry Hurry Angeredete – ein Spitzname, der etwa Harry Hurtig bedeutete und den ihm die Grenzbewohner nach Indianersitte gegeben hatten – hieß in Wirklichkeit Harry March. Er war ungewöhnlich groß und ein Bild kraftstrotzender Männlichkeit. Er hatte ein hübsches anziehendes Gesicht.
Sein Gefährte, Wildtöter gerufen, sah ganz anders aus; er war etwas kleiner und auch zierlicher gebaut. Sein Gesichtsausdruck war rechtschaffen, ohne Falsch und sehr vertrauenerweckend. Die beiden Grenzbewohner waren noch jung. Harry mochte etwa dreißig Jahre alt, sein Begleiter etwas jünger sein. Ihre Kleidung bestand in der Hauptsache aus gegerbtem Hirschleder und war ziemlich abgetragen; nur sah alles, was Wildtöter trug, ordentlich und sauber aus, während Harrys Kleidung recht vernachlässigt wirkte.

Nachwort
Unsere Erzählung spielt etwa um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Den Hintergrund bilden die Kämpfe der europäischen Kolonialmächte, die jahrzehntelang Kriege um den Besitz des reichen Landes führten. Schon im sechzehnten Jahrhundert waren die spanischen Eroberer, habgierige Abenteurer, in Amerika eingedrungen, denn der sagenhafte Goldreichtum der tapferen Indianerstämme, der Ureinwohner des Landes, hatte sie angelockt. Feudalherren, Handelsleute und Missionare überfielen die blühenden Städte der Indianer, plünderten sie aus und zerstörten sie. Die Indianer mußten in Bergwerken und auf Riesenfarmen für die Eindringlinge schuften, und Tausende gingen dabei zugrunde. Nicht viel anders machten es die Franzosen, die bereits 1535 in Kanada landeten, aber erst 1603 dort festen Fuß faßten. Etwa um die gleiche Zeit (1607) kamen auch die Briten nach Amerika, um sich Land und Bodenschätze anzueignen.
Sehr bald kam es zwischen den europäischen Kolonialmächten zu blutigen Kämpfen. Die nach dem Einfall der Europäer übriggebliebenen Indianerstämme zogen sich in die unwegsame Wildnis zurück und lebten dort schlecht und recht von Jagd und Fischfang. Mit billigen Versprechungen warben die Europäer Indianerstämme als Hilfstruppen an. Die stets von neuem aufflackernden Kämpfe endeten schließlich mit dem Sieg der Briten über die Franzosen, die 1763 ihre entscheidende Niederlage erlitten und aus Kanada vertrieben wurden. Kanada wurde englische Kronkolonie.
Im Jahre 1789 wurde James Fenimore Cooper in Burlington im Staate New Jersey geboren. Es war dasselbe Jahr, in dem die große Französische Revolution ausbrach und in dem George Washington seine erste Amtsperiode als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika antrat. Ein Jahr später erwarb Coopers Vater ein größeres Gebiet am Otsego-See, einer der Hauptquellen des Susquehanna, des größten Flusses im heutigen Staate Pennsylvanien in Nordamerika. Hier wuchs der kleine James Cooper auf, und seine ersten Eindrücke von der Entrechtung und Ausbeutung der Indianer durch die europäischen Ansiedler weckten sein Gerechtigkeitsgefühl und seine Liebe für dieses edle und tapfere Volk. Und als edle und tapfere Menschen hat er sie auch in seinen Romanen geschildert, vor allem in den weltbekannten Lederstrumpferzählungen. Das Urbild zu der Gestalt des Lederstrumpf – Nathaniel oder Natty Bumppo, auch Wildtöter oder Falkenauge genannt – ist Daniel Boone, der um die gleiche Zeit wirklich gelebt hat. Er drang in wilde unerforschte Gebiete vor, war ein berühmter Jäger und liebte die Indianer, unter denen er viele Freunde hatte. Im „Wildtöter“, dem ersten Band der fünf Lederstrumpferzählungen, wird Nattys Freundschaft mit Chingachgook beschrieben, der dem von den Europäern fast gänzlich ausgerotteten Stamm der Mohikaner angehörte und bei den stammesverwandten Delawaren lebte. Die Delawaren hielten zu den Briten, während die als heimtückisch geschilderten Huronen den französischen Kanadiern Kriegsdienste leisteten. In dem darauffolgenden Band „Der letzte der Mohikaner“ wird von Chingachgooks Sohn Unkas erzählt.
Cooper wurde nach kurzem Schulbesuch Schiffsjunge und später Offizier in der amerikanischen Marine. Geldsorgen kannte er nicht. Mit 30 Jahren begann er zu schreiben, nicht zuletzt getrieben von seiner Empörung über das harte Los der unterdrückten und ausgebeuteten Indianer. In dem Lederstrumpfband „Die Prärie“ nimmt er hiergegen Stellung mit etwa diesen Worten: „Wo findet sich ein Gesetz, das besagt, daß dem einen eine ganze Grafschaft gehören darf, während der andere um das Stückchen Erde betteln muß, in dem er sein Grab finden soll. Das ist wider die Natur.“
Und wenn Cooper am Schluß des „Wildtöters“ enttäuscht erklärt, das Vorhandensein einiger guter und edler Menschen reiche nicht aus, um das Schlechte in der Welt zu tilgen, so dürfen wir, auf dem Wege zum Sozialismus, sagen, daß wir mit vereinten Kräften das Böse endgültig beseitigen und Gutes für alle schaffen werden.

Nach einer im Jahre 1841 erschienenen Ausgabe für die Jugend neu bearbeitet und gekürzt von Ruth Gerull-Kardas. Das Nachwort schrieb die Bearbeiterin.
Illustrationen von Alfred Will

Cover der 1. - 3. Auflage

Der Kinderbuchverlag, Berlin

Reihe: Robinsons billige Bücher Bd. 7 *
1. Auflage 1954
2. Auflage 1954
3. Auflage 1955
4. Auflage 1956*
5. Auflage 1965*
6. Auflage 1967*

Siehe auch hier

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Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig und Weimar

1. Auflage 1966 [1. - 7. Tsd.]
2. Auflage 1967 [8. - 12. Tsd.]

Dem ungekürzten Text liegt die 1. deutsche Übersetzung von 1845 zugrunde, die eingehend redigiert wurde.
Mit einem Nachwort von Werner Hermann
Mit 66 Illustrationen von Walter Klemm

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Einbandtext:
Die noch unberührte Wildnis Nordamerikas und der Kampf zwischen Franzosen und Engländern um ihren Besitz bilden den realistischen Hintergrund dieses Romans. Natty Bumppo, noch heute als gesteigerter Inbegriff des schlichten, gerechten, unerschrockenen amerikanischen Grenzers geltender Held der ›Lederstrumpf‹-Romane, wird als junger Mann vorgestellt, der mit seinem indianischen Freund Chingachgook gefährliche Abenteuer zu bestehen hat.

James Fenimore Cooper (1789-1851) hat die fünf Romane seiner berühmten ›Lederstrumpf‹-Serie von 1823 bis 1841 geschaffen. ›Der Wildtöter< ist zuletzt geschrieben worden, steht aber zeitlich am Anfang der Ereignisse. Mit ihm beginnen die berühmten Abenteuer von Natty Bumppo, dessen weiteres Schicksal in den Romanen ›Der letzte Mohikaner‹, ›Der Pfadfinder‹, ›Die Ansiedler‹ und ›Die Prärie‹ erzählt wird.

Dem revidierten Text liegt die von Gustav Pfizer aus dem Amerikanischen übertragene deutsche Fassung von 1842 zugrunde.

Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar
Paperbackausgabe in zwei Bänden
1. Auflage 1985 [1. - 50. Tsd.]
2. Auflage 1988 [51. - 100. Tsd.]


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