20 September 2024

Juri Abdaschew, Juri Kasakow: Der Sohn des Poseidons – und andere Erzählungen

Heftanfang:
DER SOHN POSEIDONS
Kaum war Nina ins Meer geglitten, da bot sich ihr eine völlig neue, unbekannte Welt dar. Sie hatte den Eindruck, als sei hinter dem dicken Glas ihrer Taucherbrille überhaupt kein Wasser, so deutlich war auf dem Grund jedes Steinchen, jedes Gräschen zu sehen. Nur in großer Entfernung verschwammen die Konturen des Grundes allmählich in geheimnisvollem bläulichem Nebel. Zwischen glatten Kieseln huschten gesprenkelte Seepferdchen dahin, Kaulköpfe wedelten träge mit dem Schwanz.
Eine halbe Stunde später sonnte sich Nina am Ufer und beobachtete Igor. Sie sah ihn wiederholt tauchen und dann, oben schwimmend, den Pfeil mit der Harpunenleine vom Grunde heraufziehen. Gegen Mittag schließlich gelang es ihm, einen bräunlichen Fisch mit weißen Querstreifen zu schießen.
„Was für ein hübscher kleiner Barsch!“ stieß er durch die Zähne, nachdem er sich auf dem heißen Ufergeröll ausgestreckt hatte. „Ein Pfund wird er haben...“
Nina sah, daß der auf dem Ufer welk gewordene Barsch kaum dreihundert Gramm wog und daß Igor sich noch im Banne des unterseeischen optischen Trugbildes befand. Sie war jedoch entschlossen, sein männliches Ehrgefühl nicht zu kränken, und antwortete schnell: „Ja, keinesfalls weniger.“
Nina liebte diesen Mann. Sie liebte sein etwas herablassendes Lächeln und seine blauen Augen mit den elektrischen Fünkchen. In seiner Nähe fühlte sie sich wohl und stets ein wenig erregt. Sie wußte: Igor stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Alles im Leben gelang ihm. Er war ehrgeizig und beharrlich. In der Aspirantur des ökonomischen Instituts, wo er studierte, prophezeiten ihm die Professoren eine glänzende. Zukunft. In einem Monat sollte sie seine Frau werden. So war es beschlossen.
Am Ufer entlang kamen zwei Jungen. Ihrem Aussehen nach mußten sie aus dieser Gegend stammen. Der eine trug eine selbstgebastelte Harpune, der andere einen Draht mit einem Dutzend toter Fische.
„Was habt ihr da für Fische?“ rief Nina sie an, als sich die beiden auf gleicher Höhe mit ihr befanden.
„Grundeln und Kaulbarsche“, erklärte der eine, der schwarz war wie ein Neger und einen großen platten Kopf hatte. Er sah jünger aus als sein Begleiter. „Vitka spießt sie mit 'nem Draht auf. Macht nichts, für 'ne Fischsuppe taugen sie.“
Während er das sagte, tappte er ungeschickt mit bloßen Füßen auf dem heißen Geröll herum. Dann fragte er nach kurzem Nachdenken:
„Wie ist's, Tantchen, wollen Sie uns nicht eine Muschel abkaufen?“ Er faßte in die Tasche und brachte zwei spiralenförmige schartige Muscheln von der Größe einer kleinen Zwiebel zum Vorschein. Außen hatten sie eine poröse Kalkschicht, innen dagegen eine Glasur in warmen Orangetönen.
„Wir machen's billig“, sagte er verlegen, „zehn Kopeken das Stück. Das sind sie schon wert.“
„Habt ihr die selbst gefunden?“ fragte Nina und betrachtete interessiert eine Muschel.
Das Bürschlein mit der Harpune zog seine bis an die Knie nassen Hosen hoch.
„Wer denn sonst?“ antwortete er spitz.
Igor hob träge den Kopf. Seine hellen, vom Wasser benetzten Wimpern verdeckten fast ganz seine Augen.
„Gibt es auch große?“ fragte er.
„'s gibt welche, die sind so groß wie 'ne Untertasse. Sooo!“ Der Junge zeigte es mit den Händen. Aber man kriegt sie nicht. Die liegen ungefähr fünfzehn Meter tief, wenn nicht mehr, und am Ufer sind alle großen längst weggefischt."
 „Schade“, sagte Nina und holte eine helle Münze aus ihrer Geldbörse.
„Denken Sie nicht, die hier wären leicht zu kriegen“, sagte der mit dem großen Kopf, als wolle er sich rechtfertigen. „Da muß man auch tauchen, und nicht zu knapp! Manchmal schluckt man Wasser und bekommt Nasenbluten. Und überhaupt das kann nur Paschka.“
„Die großen holen?“ fragte Igor spöttisch.
„Nee, die kriegt auch er nicht“, antwortete der ältere, der Igors Ironie nicht bemerkt hatte, ernst. „Die kann man bloß mit einem Tauchgerät raufholen.“ Er warf geschickt das Zehnkopekenstück hoch, fing es wieder und ging seines Wegs.
„Wer ist denn dieser Paschka?“ fragte Nina den jüngeren Burschen, der drauf und dran war, seinem Kameraden zu folgen.
„Was, Sie kennen Paschka nicht?“ fragte der Bengel ehrlich erstaunt. „Paschka von den Kahlen Felsen.“
Diese Erklärung schien ihm offenbar erschöpfend zu sein. Aus Höflichkeit blieb er noch ein Weilchen stehen und betrachtete den toten Barsch.
„Was wollen Sie denn mit dem Ding da?“ fragte er und stieß Igors bescheidene Beute mit dem Fuß an. „So was fressen doch bloß die Katzen...“
Die Tage vergingen, aber Igor war das Jagdglück nicht hold. Die Fische hier waren vorsichtig. Lediglich ein paar kleine Karauschen und Stücker acht nutzlose grüne Lippfische kamen auf sein Konto. All das war eines echten Jägers unwürdig. Aber auch bei den anderen klappte es nicht besser. In der ganzen Zeit gelang es nur zwei Glücklichen, Meeräschen zu schießen. Das erregte am Ufer eine Sensation. Über Paschka von den Kahlen Felsen gingen unter den Tauchern Legenden um. Es hieß, er sei der erfolgreichste Unterwasserjäger an der ganzen Küste von Noworossisk bis Tuapse.

Inhalt:
  3 ..... Juri Abdaschew - Der Sohn Poseidons
26 ..... Juri Abdaschew - Das unvollendete Aquarell
46 ..... Juri Kasakow - Ein stiller Morgen

Originaltitel:
Der Sohn Poseidons - Съли Посейдона
Das unvollendete Aquarell - Неоконченная акварель
Ein stiller Morgen - Тихое утро

Umschlag und Illustrationen: Detlev Schüler

Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin
Reihe:
kap | Krimi-Abenteuer-Phantastik Nr. 71
1. Auflage 1968 

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