09 September 2024

Vilmos Korn: Das Nikolastürmchen

Buchanfang:
Das Nikolastürmchen
Hoch über der Elbe, gegenüber der alten Raubritterburg, auf dem Helfenberge, stand ein dickes Türmchen, mit zwei kreisrunden Fenstern: das eine nach Sonnenaufgang, das andere nach Sonnenuntergang.
In diesem Türmchen wohnte ein alter Maler. Die Stiefmütterchen, den roten Mohn, den Rittersporn und viele andere Blumen: niemand konnte sie anmutiger malen als der Meister Andreas. Doch nicht nur Blumen liebte er, auch Bäume und Tiere, vor allem aber die Kinder.
Die eigenen waren schon groß und waren weit fortgezogen, mitsamt den Enkelchen. Die einen nach Sonnenaufgang, in das Land, das hinter den Bergen lag. Die anderen nach Sonnenuntergang, in eine große Stadt.
So war der Meister Andreas allein.
Des Morgens früh ging er ans Fenster, sah hinaus zum hohen Schneeberg, hinter dem die Sonne aufging, und sagte: „Der Tag wird schön! Na wie wär's denn, Enkelchen?“
Aber niemand hörte ihn.
Des Abends stand er am anderen Fenster, sah den Fluß hinab und sagte: „Der Abend ist schön! Ich könnte eine Geschichte erzählen.“
Doch kein Enkelchen kam.
Aber es kamen fremde Kinder und besuchten den Meister Andreas.
Gleich hinter dem Türmchen lag ein Garten, nicht zu groß und nicht zu klein. Zeitiger als andernorts blühten die Schneeglöckchen, die Krokusblumen und der Ostergruß. Eine schlanke Birke hing ihr Gezweig über die Mauer. An jedem Ersten Mai wehte sie mit bunten Bändern über die Kinder hin, die zum Fest ins Dorf hinabzogen.
Die schönsten Erdbeeren reiften in dem Garten, und die ersten bekamen die Kinder. Dann wurden die Beeren an den Sträuchern süß, die gelben Kornäpfel und die Frühbirnen reiften, und die Nüsse wurden geschlagen.
Ein Baum aber stand im Garten, von dem durften sie nicht schmausen. Die roten Äpfel dieses Baumes reiften erst im Oktober. Auch heimlich nahm keines der Kinder von ihnen, denn mit diesen Äpfeln hatte es seine besondere Bewandtnis.
Eines Wintertags, als alle Dorfhäuser dicke Schneekappen trugen, tat Meister Andreas wieder einmal die Talgschaukel ins Vogelhaus und hing es vor dem Ostfenster auf, denn der Wind kam vom Westen.
Es dauerte nicht lange, da flogen zwei kohlschwarzköpfige, gelbgefiederte Meisen herzu. Meister Andreas kannte sie schon vom Sommer her, sie hießen Zwitscherin und Zwitscherinchen.
Kaum hatten sie das Vogelhaus erblickt, so waren sie auch schon darin. Zuerst schnabulierten sie am Korntröglein, dann aber turnten sie behende an der Talgschaukel und pickten dort so lange, bis sie satt waren.
Meister Andreas hob den Finger und fragte: „Ei, Zwitscherin und Zwitscherinchen, wie ist das heute mit kleinem Besuch?“
Zuerst legte Zwitscherinchen den Kopf nach links, dann legte Zwitscherin den Kopf nach rechts, und dann riefen beide zugleich: „Zwieied! Zwieied!“"
„Aha“, sagte Meister Andreas, „ich verstehe, es kommen zwei.“
Er blickte durch das runde Fenster auf die Bergstraße. .....

Illustrationen und Umschlagentwurf von Dagmar Elsner

Für Leser von 8 Jahren an

Gebrüder Knabe Verlag, Weimar
Reihe:
Knabes Jugendbücherei

1. Auflage 1964
2. Auflage 1965

Auch erschienen im
Kinderbuchverag, Berlin
Illustrationen von Hildegard Peschel-Haller
Hlw., 125 S.
1. Auflage 1956

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