04 November 2024

Gerhard Johann: Das letzte Stück

Heftanfang:
Der Junge wartete neben dem Ortsschild. Er war hoch aufgeschossen, mit dünnen Beinen, einem schmalen Körper und einem länglichen Gesicht. Das Mädchen bremste, stieg vom Fahrrad und küßte den Jungen, doch viel engagierter als kurz zuvor die Mutter. Gleich darauf saßen sie auf den Rädern und fuhren – brav hintereinander – davon.
Es war ein herrlicher Sommertag, der letzte Sonnabend in den Ferien, bald würde es vorbei sein mit den ganztägigen Badeausflügen. Noch kümmerte es die beiden nicht, sie blieben am See, bis sich die Sonne endgültig hinter dem von Kiefern verdeckten Horizont verkroch.
»Fahren wir durch den Wald?« fragte der Junge, als sie – schon mit surrenden Dynamos – auf dem Rückweg waren.
»Wenn du dabei bist«, scherzte das Mädchen.
»Es ist wegen der Abkürzung«, stellte der Junge sachlich fest.
»Ist schon gut.«
Im Wald blieben sie so nahe nebeneinander, wie es der Weg erlaubte.
»Nicht so schnell«, mahnte das Mädchen. »Ich muß mehr Kilogramm bewegen als du.«

»Dafür sind deine Beine doppelt so stark.«
»So dick.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Schaffen wir's bis zehn?«
»Wenn wir nicht kriechen.«
Als der Waldweg schmaler wurde, fuhren sie hintereinander und schwiegen.
»Sieh mal dort«, sagte der Junge und bremste.
»Ein TRABANT mitten im Wald. Ohne Licht. Ob da jemand drin ist?«
»Fahr weiter, wahrscheinlich ein Pärchen. Ich muß nach Hause.«
»Ich seh' trotzdem mal nach«, sagte der Junge, stellte sein Rad auf den Ständer und näherte sich dem Wagen. Das Mädchen folgte ihm nicht, sondern sah seiner Unternehmung mit mütterlicher Geduld zu.
»Du, komm mal schnell her!« rief der Junge, nachdem er von allen Seiten in den Wagen geschaut hatte.
»Du weißt doch, daß ich nach Hause muß.« Das Mädchen rührte sich nicht.
»Hab dich nicht so. Hier liegt eine drin.«
»Was eine?«
»Eine Frau. Die reagiert gar nicht.«
Nun gab das Mädchen seinen Widerstand auf, ging zu dem Wagen und starrte angestrengt ins Innere.
»Eine Taschenlampe müßte man haben.«
»Die schläft. Komm, ich muß nach Hause, sonst gibt's wieder Stunk.«
»Die schläft nicht«, widersprach der Junge. »Soviel sehe ich noch. Wenn einer schläft, dann sieht das anders aus. Du, ich glaube, die ist tot.«
»Unsinn!« knurrte das Mädchen, dem noch immer die Unannehmlichkeiten zu Hause schrecklicher erschienen als das, was mit der Frau sein könnte.
»Mach doch mal die Tür auf und sieh nach!«
»Hab ich versucht. Die ist aber zu.«
»Die Tür ist verschlossen? Das kann doch nicht sein.«
Das Mädchen schaute noch einmal ins Wageninnere. Die Frau saß nicht kerzengrade hinter dem Lenkrad, sondern mehr diagonal. Sie war auch nicht angeschnallt.
»Jetzt glaub ich's auch. Die ist tot.«
»Und nun?« fragte der Junge.
»Ab, nach Hause. Wir müssen was unternehmen. Die eins – eins – null anrufen oder den Abschnittsbevollmächtigten. Los!«
In Windeseile saßen beide wieder auf den Rädern und jagten davon.

Umschlaggestaltung: Brigitte Ullmann

Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Reihe:
Blaulicht 266
1. Auflage 1988

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