Heftanfang:
Der Nachtwind bläst die letzten Blätter von den Kastanienbäumen; naß und schwer fallen sie zu Boden, und es regnet, regnet, regnet. Die Lauwitzer schlafen ungestört. Seit der Fernverkehr um die Kreisstadt herumgeführt wird, donnern keine Lastzüge mehr über holpriges Pflaster, daß die Fensterscheiben klirren.
Nur ein Moped pöttert die Ernst-Thälmann-Straße entlang. Der Fahrer ist in Leder gehüllt, das naß blinkt, sobald er unter einem Peitschenmast mit orangefarbigem Licht hindurchfährt. Das Moped biegt in den Kreisverkehr des Marktplatzes ein, umrundet diesen und tuckert wieder zurück.
Vor dem Jugendmodehaus stoppt der Fahrer, und das Pöttern verstummt. Gegenüber, im Schaufenster des Goldschmieds Hillig, ist das Schutzgitter herabgelassen, und auch die Beleuchtung, die ansonsten Ringe und Kettchen golden und silbern funkeln läßt, wurde bereits abgeschaltet.
Der Mann startet wieder und fährt zum Wall, der das Städtchen parkartig umfängt und an den die Grundstücke der Ernst-Thälmann-Straße grenzen. Vorsichtig schiebt der Fahrer sein Moped ins Gebüsch. Er kennt sich aus, läuft einen schmalen Steg entlang, der den Stadtgraben überbrückt, und steigt über einen Staketzaun; unter seinen Schuhen knirscht Kies, selbst im Nachtdunkel ist die herbstliche Öde des Gartens zu ahnen.
Eine brusthohe Mauer begrenzt den Hof, Überrest der aus Feldsteinen errichteten Stadtmauer. Der Mopedfahrer klettert geräuschlos hinüber. Das linke Fenster gehört zum Papierwaren-Konsum, das rechte zu Hilligs Goldschmiedewerkstadt, es ist außen vergittert.
Der Eindringling lauscht, doch nur der Regen plätschert.
Auf Zehenspitzen nähert er sich dem Fenstergitter. Die Hände, in groben Handschuhen steckend, packen es und rütteln, es bewegt sich keinen Millimeter; der soliden Handwerksarbeit konnten die Jahrzehnte nichts anhaben.
Die in Leder gehüllte Gestalt klimmt empor.
Torsten Hillig liegt wach und giert nach einer Zigarette, aber er bezähmt sich, es würde die Frau aufwecken, die neben ihm liegt, deren Haut er warm und samtig spürt und die ruhig atmet. Sie teilen die schmale Liege in der Werkstattecke hinter dem Wandschirm seit einem Jahr miteinander.
Hillig hebt den Kopf, ihm ist, als kratze etwas am Fenstergitter. Seine Augen durchdringen die Finsternis und machen die Konturen der kargen Einrichtung aus. In der Ecke zerhackt die Standuhr die Zeit, und der Gongschlag verkündet die zweite Stunde. Ehe der Ton verklingt, klirrt Glas und fällt splitternd vom oberen Fensterflügel herab.
Bärbel fährt mit einem Schrei hoch, Hillig tastet nach der Stehlampe, das Licht geht an, und beide starren zum Fenster empor. Der Vorhang klafft spaltbreit; da ist ein blasser ovaler Fleck, ein Gesicht, durch Lederkappe und Schutzbrille unkenntlich gemacht.
Hillig springt vom Lager, und Bärbel zieht die Decke ans Kinn. Auf dem Hof scheppert die Mülltonne, der Eindringling benutzt sie wohl, um über die Mauer zu kommen. Die Frau starrt Hillig an, der erst jetzt in seine Hose steigt. „Was war das?“ fragt sie, und man merkt ihr keine Angst an. „Du mußt hinterher!“
„Zwecklos.“ Hillig winkt ab. „Der ist längst auf und davon!“
Endlich kann er rauchen, seine Hände zittern, als er den Ascher vom Werktisch holt; er setzt sich auf die Bettkante und inhaliert den Rauch.
„Du bist gut, bist du!“ sagt sie. „Da will einer einbrechen, und du tust nichts. Du mußt die Polizei rufen!“
Er sieht Bärbel erstaunt an und versteht sie nicht. Will sie wirklich, daß ihre Beziehung „aktenkundig“ wird? Die Einundzwanzigjährige hat ein Verhältnis mit ihrem dreizehn Jahre älteren Chef. Das wäre Tagesgespräch in Lauwitz.
„Ist das dein Ernst?“ fragt er. „Ich soll die Volkspolizei rufen?“
„Na und?“ sagt Bärbel.
Die beiden Worte verraten ihm, daß sie nichts dabei findet, wenn ihre Beziehung bekannt wird. Vielleicht ist sie es längst, überlegt er. Was aber soll werden, wenn Monika, seine Frau, wieder da ist?
Hillig denkt mit gemischten Gefühlen an sein Ehebett, dessen rechte Hälfte seit einem Jahr verwaist ist. Sein Haus liegt nur einen Katzensprung entfernt von hier; am Seeufer, an dem die Eigenheime wie Pilze hochschießen, seit der „VEB Landmaschinen“ seinen Werktätigen die Baukosten vorstreckt. Zur Zeit schläft Mutter bei Ina im Kinderzimmer; erscheint er nachher zu einem hastigen Frühstück, hört sie mit unbewegter Miene an, daß er wieder bis spätnachts gearbeitet hat. Torsten Hillig hält Bärbel die Packung „Duett“ hin, doch sie wehrt ab. „Nein, ich rauche besser nicht mehr!“
Umschlaggestaltung: Bernd A. Chmura
Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Reihe: Blaulicht 221
1. Auflage 1982
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