Heftanfang:
Der Märzhimmel war wolkenverhangen, und gegen Abend roch es wieder nach Schnee. In der Satellitenstadt flammten Peitschenlaternen auf. Rechts und links der Straße erhellten Fenster die hintereinander und querstehenden Häuserfronten, von denen niemand genau weiß, zu welchem Straßenzug sie gehören. Der Volksmund bezeichnet diese Gegend als Betonkastenviertel. Ein Dutzend Bäume und eine Menge Gestrüpp werden der kleine Park genannt. Er trennt die Satellitenstadt vom Zementwerk und der Altstadt von H. und schluckt eine Menge schweren, grauen Zementstaub.
Erich Ostermann rollte mit seinem LKW auf der F80 stadtwärts und bremste im selben Augenblick, in dem das Mädchen aus dem kleinen Park auf die Straße rannte.
Den Kopf durchs Wagenfenster geschoben, schrie er auf das junge Mädchen ein, das hingefallen, aber schon wieder dabei war, sich aufzurappeln. Ostermann mußte sich erst einmal seinen Schreck aus dem Leibe brüllen, ehe er aussteigen und ihr auf die Beine helfen konnte. Sie schien unverletzt, aber so verstört zu sein, daß sie nicht wahrnahm, was um sie her vorging. Ostermann hatte sich wieder in der Gewalt. Er sprach jetzt ruhig und väterlich zu ihr. Ob sie vielleicht vor jemandem ausgerissen sei oder absichtlich in seinen Wagen laufen wollte, fragte er, und was denn der Grund für das eine oder das andere wäre.
Ihr starrer Blick paßte nicht zu dem jugendfrischen Gesicht, das sie Ostermann langsam entgegenhob.
»Ein Überfall...«
Er packte sie am Arm.
»Kommen Sie, ich fahre zum Krankenhaus und rufe die Polizei an.«
Sie stemmte sich gegen ihn. »Nein, nicht ich«, sagte sie schwunglos. »Im kleinen Park. Ein Mann. Er liegt im Gebüsch.«
Ostermann hielt sie mit beiden Händen an den Schultern. »Nicht schlappmachen, junges Fräulein! Sie müssen mir den Weg zeigen!«
Später, im Polizeiwagen, sagte er zu mir: »Vielleicht hätte ich gleich losfahren sollen, aber ich war nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagt. Die hat was an sich ...« Er suchte nach Worten. »Man kommt auf die Idee, sie spinnt einem was vor. Hoffentlich ist sie überhaupt noch da. Versprochen hat sie's.«
Ich fragte, ob er ihren Namen wisse.
»Den Vornamen nur. Maria.«
Am kleinen Park angekommen, ließ unser Fahrer den Wagen im Schrittempo durch den Hauptweg rollen.
»Halt!« rief Ostermann.
Ich sprang hinaus. Der Fotograf hielt sich an meiner Seite. Hinter uns bremste ein zweites Auto. Polizeiarzt und Kriminaltechniker holten uns ein. Ostermann bog Gestrüpp auseinander. Auf der Erde lag ein dunkles Bündel. Unsere Techniker hexten Licht herbei, der Fotograf schoß Bilder. Während sich der Arzt mit dem stillen Mann auf dem Erdboden beraßte, sah ich mich nach Maria um. Ein paar Meter entfernt, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, saß ein graziles Persönchen.
»Nichts zu machen«, sagte der Arzt. Der Schlag auf den Hinterkopf war tödlich.«
»Schlag, womit?«
Reine Gewohnheitsfrage. Mehr als »stumpfer Gegenstand« erfährt man selten auf Anhieb. Der Arzt aber erwiderte: »Er ist mit einer Flasche erschlagen worden. Es riecht nach Wodka. Und da sind auch Splitter.«
»Wie angenehm zu wissen, wonach man sucht«, sagte der leitende Kriminaltechniker zu seinen Leuten. »Und wie eine Wodkaflasche aussieht, habt ihr doch in Erinnerung?«
»Wenn er die mal nicht mitgenommen hat«, entgegnete einer.
Ich ging zu dem Mädchen. Sie saß mit angezogenen Beinen wie jemand, der ein bißchen vor sich hin döst. »Maria?«
Sie blickte auf. Im Zeitlupentempo.
»Ich bin Leutnant Lewandowski. Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«
Ihr abweisender Blick blieb an mir hängen.
» Na, geben Sie mir erst mal Ihren Ausweis.«
Mit trägen Bewegungen zog sie ihn aus einer kleinen Umhängetasche. Sie hieß Maria Koehler, war achtzehn und ein halbes Jahr alt und seit zwei Monaten in dieser Stadt gemeldet. Unsere Techniker, die nach Glasscherben und der zerbrochenen Flasche suchten, rückten die Scheinwerfer weiter. Das Licht erfaßte Maria. Sie sprang auf, wollte schreien und kriegte keinen Laut heraus, stand mit angstvollen Augen, den Mund geöffnet.
»Wer ist denn das?«
Die Kriminalerzählung »Maria« wurde dem Erzählungsband »Schatten in Grün« von Tom Wittgen entnommen. © Das Neue Berlin, Berlin 1985
Einbandentwurf: Erhard Grüttner
Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Reihe: Blaulicht 269
1. Auflage 1988
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