06 November 2024

Leonid Slowin: Ohne Zorn und Vorurteil

Heftanfang:
Aus dem Vernehmungsprotokoll des Verdächtigen
»... Seit dem Mord ist eine Woche vergangen. Ich stecke immer noch in der Sackgasse und brauche Hilfe. Besonders von denen, die dem Toten nahestanden.«
»Aber in welcher Weise? Was wir wußten, ist Ihnen bekannt.«
»Wo waren Sie am vierzehnten?«
»Das heißt, am Mordtag? Das fragen Sie mich? Mich?«
»Ich mache keine Ausnahmen. Entschuldigen Sie.«
»Also gut. Das war ein Dienstag Ich wachte auf, als der Wecker klingelte. Wie gewöhnlich. Lief ins Bad. Zog mich an, wärmte mein Frühstück. Trank Tee. Dann fuhr ich zur Arbeit.«
»Wer hat Sie früh gesehen? War der Junge wach?«
»Als ich loswollte, ging er zur Toilette.«
»Haben Sie miteinander geredet?«
»Mit ihm? ›Guten Morgen!‹ ›Grüß dich!‹ Mehr nicht.«
»Wie sind Ihre Beziehungen?«
»Vertrauensvoll. Das ist die Hauptsache! Natürlich nicht so, wie zwischen ihm und seiner Mutter. Sie scharwenzelt ja von früh bis spät um ihn rum.«
»Was hatten Sie an?«
»Meine Kutte.«
»Diese hier?«
»Ich hab nur die eine... Dazu den Anzug. Den ich jetzt trage.«
»Was für Arbeit hatten Sie am vierzehnten?«
»Wie immer. Jeden Tag dasselbe.«
»Und weiter?«
»Ich blieb bis Schichtende. Beim Nachhauseweg ging ich noch in ein Lokal, auf ein Bier. Man ahnt doch nicht, wann ein Unglück passiert! Das ist alles.«
»Sie haben Kratzer im Gesicht. Rechts.«
»Das? War der Hund. Ein Zeichen freundschaftlicher Aufmerksamkeit.«
»Auch am vierzehnten?«
»Weiß ich jetzt nicht.«
»Das müssen wir dem Gerichtsmediziner zeigen. Besinnen Sie sich genauer auf das Datum.«
»Vielleicht war es der sechzehnte. Wenn es nicht wehtut, achtet man nicht drauf. Eher der fünfzehnte.«
»Ich halte es für notwendig, Ihre Kutte zu untersuchen.«
»Soll ich sie ausziehen?«
»Erst im Beisein der Zeugen. Und nun beginnen Sie bitte von vorn. Versuchen Sie, sich besser zu erinnern. Nach meinen Informationen blieben Sie an jenem Tag der Arbeit fern ....«

Doch das war später.

Vierzehnter März. Tatort
Es schien, als wollten die Flachdächer von Viršuliškes niemals auftauchen.
Aus dem Sprechfunkgerät neben dem Vordersitz quarrten Stimmen: »... Einen Minderjährigen?« – »Ja. Einen Jungen. In seiner Wohnung. Die Einsatzgruppe ist unterwegs. Sie muß gleich dort sein. Wer leitet sie?« – »Oberjustizrat Genovaitė Šivenė, Oberuntersuchungsführer der Städtischen Staatsanwaltschaft...«
Es wurde gerade erst dunkel.
»... Der Täter kann noch Spuren eines Kampfes tragen«, klang es aus dem Gerät. »Achten Sie auf Schrammen oder Blutflecken. Es ist nicht auszuschließen, daß der Gesuchte sich im abgeriegelten Gebiet befindet. Ich wiederhole...«
Vorn erschienen die ersten Häuser. Genovaitė blickte auf die Uhr. Jetzt war es nicht mehr weit. Der Fahrer schaltete das Blaulicht aus und tauchte in das Labyrinth der Höfe und Torbögen. Vor einem der Wohnblöcke standen einige Leute. Wie auf Kommando wandten sie sich dem Wagen zu.
Der »Gasik« stoppte. Genovaitė stieg als erste aus.
Major Repin, Oberinspektor der Kriminalmiliz, stellte die Zeugen vor, einen Mann und eine Frau. Beide nickten schweigend.
»Hier entlang! Zum Fahrstuhl!«
Der Wohnungsinhaber, im Anorak und barhäuptig, trat als erster ins Haus. Er hatte einen länglichen, eiförmigen Schädel und ein schmales Gesicht. Die Nase stand leicht schief, darauf saß eine Brille mit starken Gläsern. Von der Stirn zum Hinterkopf zog sich eine schmale Glatze. Er mochte vierzig Jahre alt sein.
Genovaitė folgte ihm. Nach ihr stiegen ihre Mitarbeiter in den Fahrstuhl: Antonovas, ein junger Untersuchungsführer der Städtischen Staatsanwaltschaft, die Kriminaltechnikerin Karajewa, eine beleibte, rothaarige Frau mit überraschend mädchenhaften Zügen, und der bärtige Alfonsas, der Gerichtsmediziner. Sie fuhren zum siebenten Stock.
»Hier ist es.« Der Wohnungsinhaber blieb vor einer kunstlederbezogenen Tür stehen. »Soll ich öffnen?«
»Bitte.«
Inzwischen brachte der Fahrstuhl die Zeugen.
Auf dem Fußboden vor der Tür lag ein Stück Plast oder Plexiglas mit unregelmäßigen, scharfen Kanten. Genovaitė wies die Kriminaltechnikerin darauf hin, aber die Karajewa hatte es selbst schon gesehen. Sie hob es auf und zeigte es den Zeugen: »Sieht aus wie ein Stück Plastgriff von einem Teekessel oder Bügeleisen.« Der Wohnungsinhaber fummelte schon einige Minuten ergebnislos mit den Schlüsseln herum. Er war angetrunken, versuchte es jedoch zu verbergen. Als er die Tür schließlich doch offen hatte, torkelte er ungelenk zur Seite. »Soll ich vorgehen?«
»Ja. Fassen Sie nichts an!« Genovaitė gefiel er nicht. »Wo ist der Lichtschalter?«
»Im Flur? Rechts, neben der Tür.«
Genovaitė schaltete das Licht ein, blickte um sich: Ein Vorhang aus kleinen, auf Schnüre gefädelten Bambusstücken. Frisch gebohnertes Parkett, darauf eine Bastmatte. Seitlich eine Truhe und, auf einem Schränkchen, das Telefon.
Sie schob vorsichtig den Bambusvorhang auseinander, hinter dem ein schmaler Durchgang zur Küche führte. Die Karajewa drängte mit ihrem Fotoapparat vorbei. Blitzlichter flammten auf: Der Blick aus dem Flur zur Küche. Zu den Zimmern. Die Wände. ......

Originaltitel: »Без гнева и пристрастия«, aus dem Band »Следователи«
© Verlag »Юридическая литература«, Moskau 1984
Für Blaulicht gekürzt und aus dem Russischen übersetzt von Erika Pietraß
Umschlagentwurf: Jörn Hennig

Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Reihe: Blaulicht 268
1. Auflage 1988

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