Vorwort
Die historischen »Bilder« dieses Bandes veranschaulichen bemerkenswerte politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und militärische Ereignisse einer Zeitspanne, die als Epochebeginn des Imperialismus und als Vorabend der proletarischen Revolution in die Geschichte eingegangen ist. Sie beleuchten zwei Jahrzehnte deutscher Geschichte, deren erster, längerer Teil im Bewußtsein so manches Angehörigen älterer Generationen angesichts dessen, was dann mit dem ersten Weltkrieg hereinbrach und sich mit Inflation, Weltwirtschaftskrise, faschistischer Diktatur und zweitem Weltkrieg fortsetzte, im nachhinein verklärt als »gute alte Zeit« erschien.
Gerade aus der Sicht unserer Tage ergeben sich viele Fragen an die Geschichte jener Jahre: Welche Wege führten in den ersten Weltkrieg, auf dessen Schlachtfeldern über 8 Millionen Menschen verbluteten und fast 19 Millionen verwundet wurden? Was für Motive lagen den Entscheidungen jener Staatsmänner zugrunde, deren abenteuerliche Politik einen weltweiten Krieg kaltblütig in Rechnung stellte? Hätte sich diese Katastrophe verhindern lassen? Warum vermochte die deutsche Sozialdemokratie, die damals stärkste Wählerpartei, den Herrschenden nicht in den Arm zu fallen? Was dachten und fühlten die Volksmassen, wie arbeiteten, lebten und kämpften sie?
Auf solche Fragen wollen die Bilder aus der Kaiserzeit auf ihre Art und Weise Antworten vermitteln. Sie enthüllen schlaglichtartig, daß die Flucht in eine eingebildete heile Welt des Vorgestern den nüchternen Blick dafür verstellt, daß der 1. August 1914 und vieles, was diesem Datum in den nächsten drei Jahrzehnten folgte, aus dem Schoß der sogenannten Kaiserzeit hervorging, daß diese Zeit für die Volksmassen alles andere als eine gute Zeit gewesen ist.
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert markierte nicht nur eine zeitliche Zäsur; sie leitete einen gesellschaftlichen Umbruch von großer Tragweite ein. Hinter der schillernden Kulisse von Kaisergeburtstagen, Kaiserparaden und Kaisermanövern, zu denen sich Seine Majestät natürlich »Kaiserwetter« wünschte, verbarg sich der für das deutsche Volk so folgenschwere Machtantritt der Monopolherren und Großbankiers, ihr zwar widersprüchliches, aber immer innigeres Bündnis mit den preußischen Junkern und damit ein gegen die überwiegende Mehrheit des Volkes gerichtetes imperialistisches, zutiefst antidemokratisches, militaristisches Herrschaftssystem.
Gefühlsschwangere Schlagworte jener Jahre wie »Vaterland«, »nationale Interessen«, »gottgewollte Ordnung« oder »deutsche Kulturmission« sollten nur darüber hinwegtäuschen, daß die herrschenden Klassen die Arbeiterklasse und die anderen unterdrückten Klassen und Schichten ihren maßlosen Profit- und Machtinteressen unterwarfen, ihnen ihre »Ordnung« aufzwangen und sie für die Verwirklichung ihrer abenteuerlichen, auf eine Neuaufteilung der Erde gerichteten »Weltpolitik« mißbrauchten. Kaiser Wilhelm II. wurde zu ihrer Galionsfigur. Er war nur für die »feinen Leute« da.
Doch das sind nicht die einzigen Erkenntnisse, welche die Geschichten dieses Bandes vermitteln. Sie ermöglichen auch den Gewinn einer Einsicht, auf die Friedrich Schiller in seiner Antrittsvorlesung an der Jenaer Universität »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« im Mai 1789 aufmerksam machte: »... Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsere Dankbarkeit rauben: kostbare teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen!«
Denn an revolutionären Geschehnissen und anderen progressiven Leistungen war auch diese Zeit keineswegs arm. In opfervollen, zähen Klassenauseinandersetzungen rang die deutsche Arbeiterklasse um ökonomische, soziale und politische Rechte, kämpfte sie, die fortschrittlichste gesellschaftliche Kraft, die zur Führung des antiimperialistischen und antimilitaristischen Kampfes berufen war, gegen den drohenden imperialistischen Weltkrieg. Konsequente Marxisten wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin setzten sich entschieden gegen den vordringenden Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung zur Wehr, protestierten leidenschaftlich gegen dessen »Burgfrieden« mit den Feinden des Volkes und sammelten sich schließlich in der Spartakusgruppe, der Keimzelle der späteren Kommunistischen Partei Deutschlands. Am Vorabend des »Roten Oktober« formierte sich unter dem Eindruck der russischen Februarrevolution im Sommer 1917 eine revolutionäre Matrosenbewegung zum Kampf um den Frieden gegen den »Hauptfeind im eigenen Land«.
In den 32 Beiträgen dieses Bandes wird der historisch interessierte Leser neben manchem Unbekannten auch bereits Vertrautes finden. Aber es wird ihm auf eine bisher wenig übliche Art und Weise der Geschichtsdarstellung nahegebracht, in Gestalt historischer Streiflichter hierin dem Genre historischer Porträts und Miniaturen verwandt, um das sich der. Urania-Verlag mit den Bänden »Unter dem Regenbogen« (Historische Porträts zur deutschen frühbürgerlichen Revolution), »Gewalten und Gestalten« (Miniaturen und Porträts zur deutschen Novemberrevolution 1918/19) und »Sturz ins Dritte Reich« (Historische Miniaturen und Porträts 1933-35) verdient gemacht hat. Nur daß in den vorliegenden »Streiflichtern«, die bis an den Vorabend der Novemberrevolution heranführen, nicht Persönlichkeiten im Mittelpunkt der Einzeldarstellungen stehen, sondern historische Ereignisse und Episoden geschildert werden, die für das gesamtgesellschaftliche Geschehen jener Zeit charakteristische Erscheinungen und Tendenzen offenbaren und auf knappem Raum Einblicke in historische Zusammenhänge gewähren darin mehr dem im gleichen Verlag erschienenen Band »Herkules in der Wiege. Streiflichter zur Geschichte der Industriellen Revolution« vergleichbar.
Dabei stützen sich die Autoren nicht nur auf die neueste Spezialliteratur, einschlägige Dokumentenpublikationen und Memoiren. Die meisten Beiträge beruhen zugleich auf ergänzenden eigenen Quellenforschungen der Autoren, insbesondere im Zentralen Staatsarchiv, Abteilung Potsdam und Merseburg, im Militärarchiv der DDR, im Staatsarchiv Potsdam, in den Zentralen Parteiarchiven des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (Amsterdam), im Österreichischen Staatsarchiv (Wien), im Ungarischen Staatsarchiv und im Archiv der Ungarischen Reformierten Kirche (Budapest), im Public Record Office (London), im Archiv Bosniens und Hercegovinas (Sarajevo), im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (Bonn) und im Bundesarchiv (Koblenz).
Der Band ist das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der Forschungsgruppe 1900 bis 1917 des Wissenschaftsbereichs Deutsche Geschichte 1789 bis 1917 am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR mit Fachhistorikern in anderen wissenschaftlichen Einrichtungen auf den Gebieten der Geschichte der Arbeiterbewegung, der allgemeinen Geschichte, der Wirtschafts- und Militärgeschichte, der Wissenschafts- und Literaturgeschichte sowie mit Schriftstellern und Arbeiterveteranen. Unter Wahrung der individuellen Handschriften der einzelnen Autoren und der unterschiedlichen, dem je- weiligen Gegenstand angemessenen Darstellungsformen haben die Herausgeber die chronologisch geordneten Streiflichter konzeptionell und gestalterisch zu einem Ganzen gefügt.
Herausgeber und Autoren danken allen, die das Vorhaben förderten oder unterstützten, insbesondere dem Lektor des Urania-Verlages, Herrn Lutz Heydick, den Gutachtern Herrn Prof. Dr. Konrad Canis und Herrn Prof. Dr. Gustav Seeber sowie Frau Dorle Zilch und Frau Jenni Röser für ihre wissenschaftlich-technische Mitwirkung.
Berlin, den 1. September 1983
Willibald Gutsche Baldur Kaulisch
Urania-Verlag Leipzig,Jena,Berlin
1. Auflage 1985 (1.-12. Tsd.)
Bücher und Schriftsteller, die in der DDR gelesen wurden. Schaut bitte nicht nur danach, ob hier jeden Tag Beiträge auflaufen, nutzt diesen Blog auch wie ein Lexikon. Er ist ein Langzeitprojekt, da ist es sicherlich verständlich, wenn zwischendurch immer mal wieder pausiert wird. Sei es, um nicht die Lust daran zu verlieren, aber auch, weil die Beiträge auch regelmäßig vorbereitet werden müssen. Wir wünschen Euch viel Spaß beim Stöbern und Erinnern oder neu entdecken.
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