26 Februar 2025

John Stave: Jetzt kommt Onkel Ferdinand

Irgend jemand, ich weiß nicht, wer, hat den Menschen zum Heile ibrer Seelen geraten, jeden Tag zwei Dinge zu tun, die ihnen zuwider sind: Das war ein weiser Mann, und es handelt sich um eine Regel, die ich gewissenhaft befolgt babe; denn jeden Tag bin ich aufgestanden und zu Bett gegangen.
William Somerset Maugham

Buchanfang:
Eisblumen
Benno Falke stampft vergnatzt durch die Wälder in der Umgebung Berlins. Er hält die Arme auf dem Rücken und in den Händen einen Strick. Benno hält den Strick so, als sollte ihn niemand bemerken, als sollte der Eindruck entstehen, Benno habe mit dem Strick nicht das geringste zu tun.
Wenn ihm Leute begegnen, sieht Benno Falke ganz woandershin. Zum Beispiel in die Baumwipfel, in denen er kaum einen Hauch spürt. Benno befindet sich in einer unangenehmen Lage. Mit dem Strick hat es nämlich eine besondere Bewandtnis. Seine Familie hängt daran.
Auf einem Schlitten, der an dem Strick befestigt ist, sitzt Anita Falke, Bennos Ehegespons, und vor ihr hockt zähneklappernd Bennos Sproß Etzel, ein mittelmäßiger Schulgänger, der sich aber durch große private Wißbegierde auszeichnet.
Anita hatte Benno am Silvesterabend diesen guten Vorsatz abgelockt: sonntags nicht nur immer auf den Fußballplatz zu pilgern, sondern auch einmal der Familie zur Verfügung zu stehen. Zum Beispiel zum Zwecke einer Schlittenpartie.
„Ja, wenn Schnee liegt“, hatte Benno leichtfertig zugestimmt.
Und dann fiel plötzlich Schnee. Es war zum Auswachsen. In der Stadt fing es zwar gleich wieder zu tauen an, aber in den Außenbezirken lag die sogenannte weiße Pracht wie ein Brett.
Es war glücklicherweise ein punktspielfreier Sonntag, und Benno löste drei Fahrkarten nach Friedrichshagen. Etzel hauchte Löcher in die Eisblumenpracht an den S-Bahn-Fenstern. Anita hielt den Schlitten.
„Wie kommt es eigentlich, Papi, daß solche Muster an den Scheiben sind?“ fragt Etzel interessiert.
Die Leute im Abteil sehen gespannt auf den Vater. Der räuspert sich.
„Nun, mein Junge“, sagt er, „das ist eine Frage der Innen- und Außentemperatur. Warum wohl, überlege einmal, mein Sohn, findet man diese Erscheinung nicht im Sommer an den S-Bahn-Fenstern? Nun, dieselben sind meist heruntergelassen, und außerdem fehlt es an den gewissen Minusgraden. Es ist nicht kalt.“
„Deshalb kann man ja auch im Sommer nicht Schlittschuh laufen“, ergänzt Etzel.
„Und man trinkt lieber kaltes Bier als heißen Grog“, mischt sich Anita Falke ein und klingelt mit dem Schlittenglöckchen.
„Zur Sache“, gemahnt Benno. „Der sogenannte Aggregatzustand des Wassers, mein Junge, spielt auch keine unwesentliche Rolle in dieser – hm – Hinsicht. Sieh einmal, mein Sohn, wenn die Mutti Kaffee kocht – Herrgott, ist das eine Hitze hier drin! – Also, beim Kaffeekochen, nicht wahr, da verdampft es einfach. Wenn du nicht aufpaßt, hat es sich in Luft aufgelöst, als Gas sozusagen.“
„Deshalb sind ja auch immer Pfeifen an den Kesseln“, sagt Etzel.
„Richtig. Nun, es verdampft, wird Gas – die Luft ist ja bekanntlich ein Gasgemenge in der Atmosphäre – – – "
Dreiundzwanzig waagerecht“, wirft Anita ein.
„– – – ein Gemenge – ä –, und wenn es Eis wird, ist es genau umgekehrt. Ein anderer Aggregatzustand eben. Ist doch logisch. Nicht wahr? Einleuchtend.“
„Aber die Blumenmuster, Papi?“
Die Leute im Abteil genießen mit sichtlichem Vergnügen die interessanten väterlichen Deklarationen. Benno wagt nicht, um sich zu blicken.
„Ja – die Muster. Richtig. Also, das setzt sich ja ab. Innen ist es bekanntlich warm, wenn geheizt ist, natürlich, aber draußen, da ist es kalt. Nun muß man sich vorstellen, daß die grimmige Kälte – ist dir auch so warm, Anni? –, daß diese Kälte von der einen Seite an die Scheibe randrückt, nicht wahr. Und nun kommt plötzlich die Wärme von innen, und dann friert es eben zu. Das sieht man ja.“
„So einfach ist das“, sagt Anita Falke mit ironischem Beigeschmack.
„Und wenn es drin und draußen egal kalt ist?“ bohrt Etzel.
Benno schabt mit seinem Lederhandschuh an den Blumenmustern. „Das ist aber auch zugefroren! Man kann ja nicht mal sehen, wo man ist.“
„Köpenick war schon“, sagt ein Mann mit Bierbaß und Rucksack bedächtig.
„Dann müssen wir raus“, sagt Benno erleichtert. Er erhebt sich.
„Du wolltest mir noch die Eisblumen erklären, Papi!“
„Ach. Laß mich jetzt mit diesen dußligen Blumen zufrieden“, sagt Benno unlustig. Und als er in die Runde der Mitfahrenden blickt, ist seine Sonntagslaune ganz im Eimer. Alles feixt sich eins. Benno entreißt Anita den Schlitten und springt aus dem noch fahrenden Zug.

Inhalt:
Eisblumen .. .. .. 7
Jetzt kommt Onkel Ferdinand .. .. .. 14
Ein schöner Tag .. .. .. 20
Der erste Weg zur Besserung .. .. .. 27
Das Bankgeheimnis .. .. .. 30
Haustiere einmal anders .. .. .. 36
Manuel & Manuela .. .. .. 39
Leute mit und ohne .. .. .. 42
Scherben .. .. .. 49
Häschen am Morgen .. .. .. 55
Das fünfte Rad .. .. .. 57
Anderthalb Stunden Tanz .. .. .. 60
Nachmittagsvorstellung .. .. .. 64
Einundzwanzig Bäume .. .. .. 70
Topflappenhenkel .. .. .. 75
Im Zeichen des Großen Hundes .. .. .. 79
Der märchenhafte Klempner .. .. .. 82
Die Phonetiker .. .. .. 86
Konsumdenken .. .. .. 91
Shakespeare .. .. .. 96
Ich entkleide mich nur in Gegenwart meines Anwalts! .. .. .. 97
Die Explosion .. .. .. 103
Sprechen mit Waldemar .. .. .. 106
Die Gehwege bleiben vorerst! .. .. .. 112
Der Ehrenbürger .. .. .. 115
Wie sieht ein Berliner aus? .. .. .. 122
Der Winter kann kommen! .. .. .. 126
Ich war der letzte Fußgänger! .. .. .. 129
Erziehungsmaßnahmen .. .. .. 133
Das vergeßliche Christkind .. .. .. 140

Einbandgestaltung und Illustrationen von Louis Rauwolf
   
Eulenspiegel-Verlag, Berlin
1. Auflage 1982
2. Auflage 1985

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