04 Februar 2025

Klaus Herrmann: Die guten Jahre | Band 1 u. 2

Buchanfang Band 1:
Seitdem Alfred Busch das Haus am Fischmarkt gekauft hatte, zogen die Guttauer Bürger den Hut vor ihm. Er nahm diese Huldigung so selbstverständlich entgegen, als ob er von Kindesbeinen an auf sie Anspruch hätte. Wenn er am Sonntag nach der Kirche mit Frau und Kindern über den Marktplatz ging, am Rathaus und an der Stadtmühle vorbei, und auf dem Umweg über die Neustadt durch das Werdertor heimkehrte, hielt er den Kalabreser in der linken Hand und erwiderte jeden Gruß, indem er den Kopf ein wenig neigte, wobei sein schwarzer Vollbart sich sanft auf die seidenen Aufschläge seines Mantels legte. An der rechten Hand führte er seinen Sohn Leo, einen blassen, überschlanken Knaben, der schüchtern die Augen zu Boden schlug. Frau Wilhelmine Busch, eine kleine, zarte Frau, folgte ihm in einigem Abstand. Sie rückte von Zeit zu Zeit ihr Kaschmirtuch zurecht, das von ihren Schultern herabzugleiten drohte, während sie halblaut ihre drei Töchter, die Hand in Hand vor ihr hergingen, ermahnte, die entgegenkommenden Bekannten zuerst zu grüßen. Aber Meta, Trude und Anna wußten ebensogut wie ihr Vater, was sie wert waren und daß die Guttauer den Hut ziehen mußten, wenn sie von ihnen beachtet werden wollten. Nur der Bürgermeister Kühnast und der Superintendent Schwarzschulz wurden von Herrn Busch zuerst gegrüßt.
Das Haus am Fischmarkt, auf dem übrigens schon seit Jahren keine Fische mehr verkauft wurden, hatte Herrn Jankowsky gehört, einem Tuchfabrikanten, der im Frühjahr Bankrott gemacht hatte. Alfred Busch ließ es vom Keller bis zum Boden renovieren; gegen Ende des Sommers wollte er es beziehen. Bis dahin blieb er mit seiner Familie in der Beletage am Zindelplatz, die er seit beinahe einem Jahrzehnt bewohnte, seitdem das väterliche Häuschen an der Werdermauer zu eng geworden war.
Die Guttauer erzählten Wunderdinge von dem Umbau und der neuen Einrichtung des Hauses am Fischmarkt. Die kleine Treppe, die zu der eichenen Eingangstür hinaufführte, war zu beiden Seiten mit einem schmiedeeisernen Geländer versehen worden; eigentlich war das Geländer überflüssig, aber es verlieh ebenso wie der neue, gelblich getönte Verputz dem alten Patrizierhaus ein modernes, reicheres Aussehen. Von den Veränderungen im Innern hatte der Baumeister Hohmann, dem sie übertragen waren, am Stammtisch im „Schwarzen Bären“ nur wenig verraten. Immerhin erfuhr man, daß eine Wand zwischen zwei Vorderzimmern beseitigt werden sollte, um einen weitläufigen Speisesaal zu gewinnen; auch würde die Treppe zum ersten Stockwerk an Stelle des alten hölzernen Geländers ein neues, ebenfalls schmiedeeisernes erhalten. Über die Details der Wohnungseinrichtung schwieg Herr Hohmann, doch die Phantasie seiner Zuhörer malte sie um so glänzender aus. Schon am nächsten Tag wurde von Ledertapeten im Speisesaal, einer seidenen Wandbespannung im Salon und der wahrhaft verschwenderischen Verwendung von Marmor im Vestibül erzählt. Die Guttauer glaubten diese Gerüchte unbesehen, denn sie waren sich darüber einig, daß man von Alfred Busch nicht den guten Geschmack und die selbstverständliche Unauffälligkeit ererbten Wohlstands erwarten durfte. Die Tuchfabrik A. Busch bestand erst seit wenigen Jahren, aber sie hatte bereits alle einheimischen Unternehmungen außer der Firma C. W. Ehrmanns Wwe. überflügelt.
Bernhard Ehrmann war deshalb auch der einzige Guttauer Fabrikant, der nicht daran dachte, Alfred Busch zu grüßen. Er ließ sich nicht von dem neuerworbenen Reichtum imponieren. Schon sein Vater und sein Großvater waren Ratsherren der Stadt Guttau gewesen. Sein Vater hatte dem jungen Alfred Busch, der bei ihm um eine Anstellung nachsuchte, die Tür gewiesen; für Aufrührer und Abenteurer sei in seinem Hause kein Platz, hatte er ihm gesagt. Alfred Busch hatte schweigend das Kontor verlassen, doch die Demütigung blieb unvergessen; er beachtete den Sohn seines Feindes ebensowenig wie dieser ihn.

Buchanfang Band 2:
Erstes Kapitel Plarre geht um
Bald nach dem Tode des Sanitätsrats hatte Trude Pahl entdeckt, daß ihre Ehe mit ihm glücklich gewesen war. Seitdem lebte er in ihrer Erinnerung als ein gutaussehender älterer Herr fort, dessen Beziehungen zu anderen Frauen sich auf unverbindliche gesellschaftliche Liebenswürdigkeiten beschränkt hatten. Wenn sie von ihm sprach, traten ihr die Tränen in die Augen.
„Er könnte heute noch leben“, sagte sie zu Anna, „aber er ist immer leichtsinnig gewesen, er nahm sich niemals in acht.“
Der Sanitätsrat war zwei Monate nach Kriegsende an Leichenvergiftung gestorben. Obwohl das Trauerjahr vorüber war, ging die Witwe noch schwarz gekleidet; sie könne sich mit dem Verlust nicht abfinden, behauptete sie. Auch vernachlässigte sie seitdem ihr Äußeres. Das grauweiße Haar, das sie nur selten wusch, hing ihr in die Stirn, die Vorderseite ihres schwarzen Kleides war mit Fettflecken übersät, ihre Schuhe waren ausgetreten, die Absätze schief; ihre Augen tränten, beim Sprechen lief ihr der Speichel aus den Mundwinkeln über das Kinn. Aber ihre dunklen Augen blickten glänzend und feindlich in eine Welt, über deren Feindseligkeit sie sich keinen Illusionen hingab.
„Meine Kinder haben mir nicht einmal zu meinem siebzigsten Geburtstag gratuliert“, berichtete sie ihrer Schwester. „Ich habe es nicht anders erwartet. Meine Kinder kümmern sich nie um mich.“
Jedesmal wenn sie von ihren Kindern sprach, stellte sie Betrachtungen darüber an, wieviel dem Sohn seine Praxis in Frankfurt einbrachte. Übrigens ging es der Tochter in Görlitz noch besser, ihr Mann hatte trotz der schlechten Zeiten sein Speditionsgeschäft vergrößert und seinem Sohn zum Geburtstag ein eigenes Auto geschenkt. Aber Trude hielt sich nicht lange mit Klagen auf.
„Ich habe meine beiden Kinder verflucht!“ erklärte sie leidenschaftlich. „Meine Flüche haben Macht, sie werden erhört! Weißt du noch, Anna, wie ich Meta verflucht habe, als sie es ablehnte, sich an den Kosten für Brunos Beerdigung zu beteiligen? Ihr Nierenleiden hat sie nicht unter die Erde gebracht, aber eine lumpige Lungenentzündung! Genau einen Monat hat sie meinen Fluch überlebt, und ihr Enkelsohn ist so schwächlich und blutarm, daß er ihr bald folgen wird! Auch den Lehrer mit seiner ordinären Frau und seinen drei Gören, die sie mir in die Wohnung gesetzt haben, werde ich verfluchen! Ich kann dir nur sagen, wer es mit sich selber gut meint, der stellt sich gut mit mir!“
Ihre Stimme klang triumphierend, ihr Gesicht zuckte nervös. Draußen in der Halle wurde eine Tür geschlossen. Anna hob lauschend den Kopf, aber es war wohl nur das Dienstmädchen, das hinaufging, um die Betten zu machen; sie hatte gehofft, daß es Christian wäre.
„Ich glaube gern, daß du es nicht leicht hast, Trude“, sagte sie und schenkte der Schwester Kaffee ein.
Trude nahm ein Stück Kuchen und begann gierig zu essen.

Inhalt:
BAND 1
    PROLOG
    DER TOD IST NICHT EINGEZOGEN (1864) .. .. .. 5
    DER ERBE (1874-1876)
        Erstes Kapitel: Die Verfluchung .. .. .. 51
        Zweites Kapitel: In der Höhle des Löwen .. .. .. 135
        Drittes Kapitel: Nothing succeeds like success .. .. .. 225
    DIE BRÜDER (1914)
        Erstes Kapitel: Amor aus Bronze .. .. .. 285
        Zweites Kapitel: Der lächelnde Leichnam .. .. .. 378
BAND 2
    DIE MÖRDER (1920)
        Erstes Kapitel: Plarre geht um .. .. .. 7
        Zweites Kapitel: Auf der falschen Spur .. .. .. 50
        Drittes Kapitel: Der Täter darf nicht der Täter sein .. .. .. 91
        Viertes Kapitel: Ein Opfer der Gerechtigkeit .. .. .. 157
    EPILOG
    DIE GUTEN JAHRE ZÄHLEN NICHT (1934) .. .. .. 199

    ANHANG
        Anmerkungen .. .. .. 241
        Zeittafel .. .. .. 249

Verlag der Nation, Berlin
1. Auflage 1966 [1.-15. Tsd.]
2. Auflage 1967 [16.-35. Tsd.]
3. Auflage 1969 [36.-45. Tsd.]
4. Auflage 1972
5. Auflage 1977 
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Klaus Herrmann: Die guten Jahre
(in einem Band)
Volksverlag, Weimar*
1. Auflage 1963

*Anmerkung zum Verlag:
Der Thüringer Volksverlag – später Volksverlag Weimar – war ein Verlag in der DDR und wurde am 13. Juli 1945 gegründet und 1964 in den Aufbau-Verlag überführt.

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