11 März 2025

Wolfgang Zeiske: Dolchkralle

Buchanfang:
Das Dorf am See

Weitflächig, mit vielen Buchten und dem Land ringsum sich anschmiegend, liegt der See, umgeben von der meilenweiten Kiefernheide. Seine Ufer sind meist flach, und die Bäume spiegeln sich im Wasser, so nahe treten sie an ihn heran. Nur im Südwesten erhebt sich ein sanfter Hang, und in seinen Hügelwellen liegen die wenigen Häuser Altenkrugs; sie verbergen sich zwischen den Bäumen.
Es ist ein kleines Dorf, von keiner Straße zu erreichen. Ein breiter, ausgefahrener Sandweg führt durch den Wald bis zum nächsten Marktflecken, und ein rüstiger Fußgänger muß mindestens zwei Stunden bis dahin marschieren.
Der Fischer wohnt in Altenkrug. Am langen Steg schaukeln seine Boote, wenn der Wind kleine Wellen gegen das Ufer wirft. Netze, zum Trocknen aufgespannt, blähen sich im Wehen; graugrün schimmert das alte Rohrdach des großen Schuppens, der im Winter das Gerät des Fischers aufnimmt.
Das Wohnhaus ist freilich schon mit Ziegeln gedeckt, wie auch das Haus des Försters. Die vier oder fünf Bauernwirtschaften tragen jedoch meist noch Stroh- oder Rohrdächer.
Erst vor wenigen Jahren löste in Altenkrug die elektrische Glühlampe die Petroleumfunzel ab, als eine Schneise durch die Heide geschlagen und Masten errichtet wurden, von denen sich in Bogen die Kabel spannen. Bauer Jürß hatte das erste Fernsehgerät und bekam seinetwegen auch gleich Ärger mit dem Förster; weil Jürß nämlich, ohne zu fragen, eine lange und starke Kiefer fällte, sie entrindete und neben seinem Haus aufstellte, nachdem an ihrer Spitze das seltsame kammartige Gestell der Fernsehantenne befestigt war. Dann gingen die Leute bei Jürß fernsehen, allesamt, nur der Förster zuerst nicht, weil er böse war auf Jürß. Und der auf ihn, hatte der Mann in der grünen Uniform ihn doch ganz verdeubelt angeschnauzt, auch mit Strafe gedroht. Später vertrugen sie sich wieder, und nun kam Förster Rethwisch beinahe jeden Abend zu Jürß, bis er sich selbst so ein neumodisches Bildröhrendings kaufte und es nicht mehr nötig hatte, die fünfzig Schritte zum Nachbarn zu gehen.
Dann gibt es im Dorf noch einen kleinen Konsumladen, den die Tochter von Jürß unter ihrer Fuchtel hat. Zweimal in der Woche kommt der planebespannte Bäckerwagen, bringt Brot und Brötchen – Kuchen wird er bei den Altenkrugern nicht los, den backen die Frauen lieber selbst –, und einmal am Tage, zwischen Mittag und Vesper, radelt der Postbote ins Dorf. Manchmal kommt er erst gegen Abend, und im Winter gelegentlich gar nicht, weil der Weg so verschneit ist, daß er Altenkrug nicht erreichen kann. Dann muß er warten, und die Altenkruger müssen warten, bis ein Trecker vom Marktflecken vor den breitscharigen eisernen Schneepflug gespannt wird und mühselig eine Gasse zum Dorf freilegt.
So ist es sehr einsam in dem Fischer- und Bauerndorf, aber den Leuten ist es recht so. Sie sind es nicht anders gewohnt und mögen es darum auch nicht anders. Die Kinder gehen im größeren Nachbardorf, das Neuenkrug heißt, zur Schule. Bis dahin sind es drei Kilometer, und für die kleinen Ranzenträger, die Abc-Schützen, ist das ein langer Weg. Seit zwei Jahren wird davon geredet, der große Schulbus soll sie holen, aber bisher ist das Gerede geblieben, weil der Bus todsicher am langen Sandhang steckenbleibt, der sich etwa in der Mitte zwischen den beiden Dörfern dreihundert Meter lang und dreißig Meter hoch erstreckt. Und zur Neuenkruger LPG gehören auch die paar Altenkruger Bauern.
Sonst ist für die Altenkruger eben nur der See da und der Wald. Alle Leute angeln. Ob das Großvater Schröder ist, der trotz seiner fünfundachtzig Jahre noch häufig den langen Angelschacht auf die Schulter nimmt, sich an der Rohrkante hinhockt und geduldig wartet, ob eine Schleie oder ein Brachsen beißen will, oder Förster Rethwischs Jüngster, der nächstes Jahr zur Schule kommt.
Fischermeister Kaunitz war das anfangs gar nicht recht, und er wollte, daß die Altenkruger sich bei ihm Erlaubnisscheine zum Angeln holten. Sie sollten nicht viel kosten. Drei Mark im Jahr für die Großen, eine Mark für die Lütten, nur daß alles seine Ordnung hätte. Aber er ist wieder davon abgekommen, weil es doch keiner tut und er bloß Feindschaft im Dorf bekommt, wenn er darauf besteht. Auch Förster Rethwisch sagt nichts mehr, wenn die Frauen mit dem Handwagen losziehen und sich Brennholz holen.

Inhalt:
Das Dorf am See .. .. .. 5
Der Horst wird ausgenommen .. .. .. 30
In der Freiheit .. .. .. 44
Septemberzeit .. .. .. 54
Winter .. .. .. 68
An der Ellernbucht .. .. .. 82
Ein Beizvogel wird geschlagen .. .. .. 89
Der Jäger Dolchkralle .. .. .. 104
Maitag .. .. .. 111

Illustrationen: Hans Baltzer
Für Leser von 10 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1968
2. Auflage 1973
3. Auflage 1976
4. Auflage 1981
 

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