02 April 2025

E.R.Greulich: Sprung über den Schatten

Einbandtext:
Borenz inspizierte die Zelle. Seine Augen waren wach und flink. Mit dem Fuß schurrte er den Zinkeimer aus der Zellenecke.
„Geben Sie mal her.“
Eckard reichte ihm den Eimer, Borenz hob ihn ins Licht.
„Das nennen Sie blank?“
Eckard erwiderte nichts, zeigte weiterhin ein unbeteiligtes Gesicht und dachte: Ausgerechnet den Eimer bemeckert er, damit habe ich bei seinem Vorgänger Krause doch immer Eindruck gemacht.
„Ob Sie das blank nennen, habe ich gefragt!“
„Ich habe mir Mühe gegeben, Herr Hauptwachtmeister.“
Während des Satzes ließ Eckard etwas die Mundwinkel hängen.
„Stehen Sie gerade!“ brüllte Borenz, „wir sind hier nicht in der Kneipe. Solange ich in der Zelle bin, bitte ich mir Haltung aus!“
Eckard straffte sich übertrieben.
„Jawohl, Herr Hauptwachtmeister!“
 „Da!“ Borenz warf Eckard den Eimer zu. Der fing ihn gerade noch, prellte sich dabei aber den linken Mittelfinger.

Heftanfang:
Von Land her wehte schwach der Wind. Er trug den Duft von Kiefern und reifem Korn. Thea Borenz stand auf der Düne, die Hand über den Augen. Die See war ruhig. Man erkannte die flachen Stellen. Das Glitzern des Wassers erinnerte an Millionen Fische, deren silberne Schuppen im Sonnenlicht glänzten. Landeinwärts schloß sich ein Streifen Kiefernwald an die Dünen, hinter dem die Landstraße eine reizvolle Parallele zum weiten Küstenbogen der Tromper Wiek bildete. Thea blickte auf ihre Armbanduhr. Die Sportlergruppe kam meist eine halbe Stunde später. Es war noch keine Menschenseele auf dem nie sehr belebten, langen Strand zu sehen. Die zwei Fähnlein Pimpfe und einige Trupps der Hitlerjugend übten am Vormittag irgendwoanders Kriegsspiele.
Thea warf das leichte Sommerkleid ab, zupfte am Badeanzug und ließ sich „in ihre“ Kuhle gleiten.
Mit beiden Händen griff sie in den warmen Sand. Sie hätte sich unbeschwert erholen können. Aber weshalb blieb da ein Rest? Sucht mir nicht Vater jeden Wunsch von den Augen abzulesen? Die Mutter wird er mir nie ersetzen können. Ich habe niemanden mehr, mit dem ich mich aussprechen kann. Seit Mutters Tod wurde Vater noch fürsorglicher, trotzdem leben wir beide wie durch Glas getrennt. Er bevormundet mich kleinlich. Er hat Angst, ich könnte jemanden kennenlernen. Ich bin einsam und unfrei. Zum drittenmal nach Mutters Tod sind wir hier bei den Verwandten in Urlaub. Sein Gesicht ließ mich erschrecken, als ich vorschlug, er solle mich einmal allein in Urlaub fahren lassen. Ich habe nicht gewagt, wieder darauf zurückzukommen. Solange ich mich erinnern kann, hat er seine ganze Liebe auf mich konzentriert. Als Kind hat es mir gefallen. Dann wurde ich älter und erkannte immer deutlicher, wie ungerecht er Mutter behandelte. Sie litt unter seinem Beamtenhochmut. Mutter erzählte mir einiges über Vater, was ich von ihm nie erfahren hätte. Er hatte die höhere Laufbahn in der Justiz einschlagen sollen. Großvater Heinrich stand im mittleren Justizdienst und ......

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Karl Fischer

Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin
Reihe:
Erzählerreihe 199
1. Auflage 1974 [1.-133. Tsd.] 

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