11 Mai 2020

Józef Ignacy Kraszewski: Reiseblätter

Nicht jeder, der eine Reise tut, vermag von ihr so anschaulich, so informativ und so brillant zu erzählen wie der polnische Literat und Grandseigneur Józef Ignacy Kraszewski, der 1858 für Monate lang Italien, Frankreich, Belgien, die Rheingegend, Sachsen und Preußen durchstreifte. Der prominente Autor der "Gräfin Cosel", des "Brühl" und anderer vielgelesener historischer Romane erweist sich in diesen Blättern als ein Reiseschriftsteller von hohen Graden, und seine inspirierte Sachkenntnis in Kunstdingen, seine Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur, seine klugen und oft erstaunlich weitsichtigen Auslassungen zu sozialen, wirtschaftlichen und akuten politischen Problemen faszinieren uns Heutige nicht minder als seine zeitgenössischen Leser. Nach einem Italien, in dem nur die Vergangenheit groß ist, erlebt er das Second Empire Napoleons III. auf dem Gipfel seiner Macht, aber der aufmerksame Blick des Reisenden, der als Bürger eines dreigeteilten Landes sensibel auf untergründige Prozesse reagiert, entdeckt die gefährlichen Risse und Sprünge hinter der glanzvollen Fassade. Herrlich ist Paris mit seinen neuen Haussmanschen Boulevards, überwältigend der Louvre mit seinen einzigartigen Schätzen, erschreckend jedoch die allgemeine Gier nach Geld und Genuß, als deren Inkarnation der legendäre Bankier und Spekulant Mirès erscheint. Durch Belgien, den aufstrebenden jungen Staat, geht die Reise nach Köln, zum steinernen Wunder des gotischen Doms, und von dort auf der "Princesse de la Prusse" den Rhein hinauf, dessen romantisches, ihm durch Stiche vertrautes Uferpanorama Kraszewski mit Andacht genießt. Die Handelsstadt Leipzig, Zentrum des Buchhandels, über dessen Geschichte sich der Polyhistor ebenso versiert verbreitet wie über die Völkerschlacht des Jahres 1813, ist wohlhabender als das benachbarte Dresden, die von August dem Starken geprägte Residenz der sächsischen Könige, doch als Kunststadt hat Dresden in deutschen Landen nicht seinesgleichen, und wie gemütlich und - für betuchte Ausländer - erfreulich billig ist das Leben in diesem Elbflorenz, das nur ein Manko hat: seine Küche! Die spröden Reize der Halbmillionenstadt Berlin lassen den allem Preußischen abholenden Polen kühl, der bereits ahnt, daß er in der künftigen Metropole eines unter preußischer Führung vereinigten Deutschen Reiches weilt, doch den "Linden" mit ihren eleganten Equipagen, ihrem Überfluß an Uniformen erweist er dennoch seine Reverenz. Kraszewskis Bericht über seine Reise ist ein einzigartiger Kulturspiegel jener Zeit und entläßt einen um vieles bereicherten Leser aus dem 19. Jahrhundert in seine Gegenwart.

Rütten & Loening Berlin, 1. Auflage 1986
Deutsch von Caesar Rymarowicz

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