22 Mai 2020

Raymond Radiguet: Den Teufel im Leib



Raymond Radiguet, eines der Wunderkinder der französischen Literatur, hat diesen kleinen Roman mit siebzehn Jahren geschrieben. Jean Cocteau, der den jungen Mann entdeckte, ihn förderte, ihn in die Pariser literarischen und künstlerischen Kreise der Zeit nach dem ersten Weltkrieg einführte, beschreibt ihn als schmächtig, blaß, kurzsichtig, fast blind. "Er hüpfte von Gehsteig zu Gehsteig. Er hatte den Gang eines verwundeten Vogels." Mit fünfzehn Jahren kam er nach Paris, schrieb und veröffentlichte einen Band Gedichte, die heute vergessen sind, und zwei kleine Romane. Zwanzigjährig starb er.
Was war so ungewöhnlich an diesem ersten Buch, dem "Teufel im Leib", daß manche großen Zeitgenossen sich mit Bewunderung vor ihm verneigten? Es ist eine oft erzählte Geschichte: Ein Sechzehnjähriger liebt eine junge Frau, nur wenig älter als er selbst. Marthe hat vor kurzem geheiratet; ihr Ehemann Jacques steht an der Front; wir sind am Ausgang des Jahres 1917. Der Krieg, obwohl in der Fabel kaum mehr als ein Hintergrund, ist Ursache und Erklärung für ein seelisches Phänomen, das Aus-der-Bahn-geworfen-Sein von Halbwüchsigen, "für die der Krieg so etwas bedeutete wie vier Jahre große Ferien". Doch was diese tragisch, aber nicht traurig endende Liebesgeschichte auszeichnet, ist die Art, von der der Held von sich erzählt: offen, beinahe frech, und doch mit tiefer Keuschheit. Er analysiert das Entstehen, das Wachsen, die Höhen und Tiefen seiner und Marthes Empfindungen, er spricht von seinem Verlangen, seinen Konflikten, seinen törichten Träumen, aber genauso ehrlich auch von seiner Feigheit sich zu entscheiden, seiner Tatenlosigkeit angesichts einer Liebe, der er noch gar nicht gewachsen ist. Und das schreibt Radiguet ganz unsentimental, ohne das geringste Pathos, ohne tönende Passion, in einer Sprache, die so knapp, so rein, so unbeladen ist, daß ihr daraus eine große Schönheit erwächst. Diese wiedergefundene klassische Reinheit vor allem war es, die seine Zeitgenossen so sehr in Erstaunen setzte: denn sie waren gerade dabei, in surrealistischem Protest gegen eine nicht mehr akzeptierte Wirklichkeit das Wesen und die Poesie der Dinge ausschließlich jenseits dieser erkennbaren Wirklichkeit zu suchen. Und so berichtet Cocteau: "Mitten in der Krise des Dadaismus und Surrealismus erklärte Radiguet: ,Nicht den Akademismus muß man bekämpfen, sondern die Avantgarde. Man sollte schreiben, wie jedermann schreibt.' Doch dies diente ihm nur als Ausgangspunkt und war ihm unmöglich, denn er schrieb wie niemand sonst."

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1974
bb-Reihe Nr. 307

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