15 Januar 2021

Christine Wolter: Meine italienische Reise


 Diese Städte- und Menschenbilder zeigen ein fremdes Land: behutsam, um diesen und jenen Nachweis bemüht, besorgt, den rechten Eindruck nicht zu verpassen, auf den es uns ankommt aus guten Gründen. Reisen, das modische Zauberwort, ist in unserem Beispiel ohne Belang, Reisen in Vollpension, mit Feriengefühlen und verzückt aufgeblendeter Kamera vor Strand und Stein. Reisen als Dolmetscherin ist ein Wald von Terminen, holzig und tief, mit Lichtungen, Schneisen und Bächen...

Da ist Venedig, die dunkle Stadt, Lichter spielen auf dem Wasser, Gondeln gleiten vorbei, geheimnistragende Schatten. Im Opernhaus der verklingende Glanz schöner Stimmen vor Italiens Reichen, die angetreten sind wie zu einem Festschmaus. Die Nacht versinkt, auf die leeren Plätze schleicht Ruhe ein. In dieser erwartungsvollen Stille erleben zwei Menschen das Wunder ihrer Gegenwart, die von Premierenlärm, vom großen Theater der verwöhnten Stadt nicht zu betäuben war. Da gehen zwei, als seien sie eben zur Welt gekommen, als hätte es dieses Abends bedurft, um ihnen zu zeigen, was sie vergessen haben. Das Licht der Nüchternheit strahlt aus dem Dunkel der Kulisse, die durchsichtig wird für sie, deren Wege sich trennen.

Beginn

Abschiede, Bildfragmente. Mein Gesicht ist naß, nicht von Tränen, von Schweiß, die große Bahnhofshalle kocht, das Wollkostüm umklammert mich. Gleich zwei Freundinnen haben sich erboten, mich zum Zug zu bringen, kommen mit Apfelsinen, Schallplatten, Küssen. Was fürchten Sie? Glauben sie, ich würde auf dem Petersplatz in die Knie sinken und sagen: Ich will hierbleiben? Sie sind besorgt, sie kennen den Zauber ihres schönen häßlichen Landes, und sie wissen nicht, welche Liebe mich heimwärts zieht. Und während der Zug langsam aus der Halle rückt, beginne ich schon zu vermissen und sehe noch einmal gierig hinaus: die Sonne, vorspringende Gesimse, Fensterläden, Schatten, Madonnen auf den Bildern und in den Straßen, offenes Lachen, Wutgeschrei, Geselligkeit der Plätze, gedeckte Tische unter Weinranken, Parmesan, Valpolicella... Da beginnt das Bedauern um alles, was verloren und verpaßt ist, der unaufhaltsame Verschleiß der Erinnerungen, das Vergessen...

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 2. Auflage 1975

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