28 März 2021

Heinrich Zille: Das dicke Zillebuch

 Mein Lebenslauf (aufgezeichnet für die Akademie der Künste in Berlin, 1924)

1872 lernte ich Lithograph und ging die Woche zweimal abends in den Unterricht zum alten guten Professor Hosemann in die Kunstschule, die damals in der Akademie war, ebenso zweimal die Woche zum Professor Domschke, Anatomie, der sehr grob war – und die vollste Klasse hatte: „Wenn Se noch nicht mehr kenn‘, dann setzen Sie sich mit Ihr Brett uff die Treppe un‘ nehmen nich hier die hoffnungsvollen Jünglinge, die bald nach Italien wollen, den Platz weg!“ -, aber die Klasse war übervoll, die jungen Leute freuten sich über den alten Herrn, der so wie der olle Schadow sprechen sollte – nach ihm hat’s P. Meyerheim verstanden, das „Berlinern“ weiter auszubilden.

Der alte Hosemann ließ mich in seiner Wohnung Louisenstraße, am Neuen Tor, ganz gern seine Skizzen und Zeichnungen ansehen und auch abmalen, sagte aber: „Gehen Sie lieber auf die Straße raus, ins Freie, beobachten Sie selbst, das ist besser als nachmachen. Was Sie auch werden – im Leben können Sie es immer gebrauchen; ohne zeichnen zu können, sollte kein denkender Mensch sein.“

Es ist ein nicht grade heiteres, von wenig Sonne erhelltes Feld, das ich mir wählte: der fünfte Stand, die Vergessenen! Ich bewunderte Hans Baluschek, den ich so hoch verehre und nie erreichen werde! Als Kind bei Entbehrungen aller Art aufgewachsen, machten die Hogarthschen Stiche, die ich als Junge in den Pfennigmagazinen entdeckte, großen Eindruck auf mich; ich verglich den Inhalt der Bilder mit dem Leben, das ich um mich sah. Mein Vater war der älteste Insasse des Schuldgefängnisses, den die Gläubiger schon jahrelang festhielten, bis das Gesetz über die „Wechselhaft“ fiel.

Dort erlebte ich Szenen, wie sie Dickens im „David Copperfield“ geschildert hat. Aus buntem Tuch und Pelzresten verstand Mutter Schweinchen, Hunde, Katzen, Mäuse usw. plastisch darzustellen, wobei die Schwester und ich bis in die Nacht hinein halfen. (…)

Die Woche ging ich zweimal in den Zeichenunterricht; das kostete den Monat einen Taler, den ich mir selbst verdiente. Von der ganzen Schulzeit waren mir die liebsten Stunden, in der ärmlichen Dachstube, Berlin O., Blumenstraße, beim alten Zeichenlehrer Spanner. Und merkwürdig, ein Haus weiter wurde ich als älterer Mann in dem Verbrecherkeller, der sich dort befand, von dem Aufpasser an der Kellertür, den man „Spanne“ nennt, mit dem Tode bedroht. Das Sehen und Erleben in den Kinderjahren half wohl später manche Bilder gestalten. (…)

War auch die Arbeit am Tage nicht so erfreuend, um so mehr waren es die Abende in der Kunstschule und später im Abendaktsaal. Sonntags ging’s ins Freie, um Landschaft zu versuchen. Die noch bleibende Zeit mühte ich mich, das auf der Straße Gesehene aus der Erinnerung zu zeichnen. Der Lehre folgte die Gehilfenzeit; ich kam in gute Werkstätten, arbeitete mit R. Friese und Frenzel, den späteren Tiermalern, und vielen tüchtigen Lithographen zusammen und erlernte den Buntdruck. Nach der Militärzeit ging ich zum graphischen Gewerbe, wie Lichtdruck, Zinkographie, Photogravüre usw. über, da hat mir das etwas Zeichnenkönnen geholfen, gute Arbeit zu machen. Mancher Beitrag für Zeitungen war entstanden, die Zeichnungen und Skizzen sammelten sich an, so dass ich auf Zureden von Freunden mich zaghaft traute, in der ersten Schwarzweiß-Ausstellung der Berliner Sezession 1901 auszustellen. Man war entrüstet über die Verunglimpfung Berlins und seiner Bewohner. Nach und nach lernten die Leute sehen, urteilen und mich verstehen. Im Osten und Norden Berlins verstanden sie mich gleich, als meine Gestalten im Simplicissimus und der Jugend, den ersten Zeitschriften, die mir gnädig waren, auftauchten. Seit 1907 bin ich nicht mehr im graphischen Gewerbe und konnte mich mit dem, was mir am Herzen lag, nun ganz und gar befassen.

Meine erste eigene Wohnung war im Osten Berlins im Keller, nun sitze ich schon im Berliner Westen, vier Treppen hoch, bin also auch gestiegen. Einige Radierungen sind ins Kupferstichkabinett gelangt und eine Anzahl Zeichnungen und Skizzen in die Nationalgalerie. Jetzt, 1924, bin ich sogar Mitglied der Akademie geworden. Dazu schreibe ich das, was das völkische Blatt, der „Fridericus“, sagt: Der Berliner Abort- und Schwangerschaftszeichner Heinrich Zille ist zum Mitglied der Akademie der Künste gewählt und als solcher vom Minister bestätigt worden. – Verhülle, o Muse, dein Haupt.

Eulenspiegel-Verlag, Berlin, 1. Auflage, 1971

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