24 Mai 2023

Günther Weisenborn: Der Verfolger

Sie nannten sich „Silberne Sechs“, sie waren eine Unterhaltungskapelle und eine Widerstandsgruppe, und einer von ihnen wurde zum Verräter. Daniel Brendel überlebte, und er entdeckte den Spitzel. Doch bei den zuständigen Stellen findet er weder Verständnis noch Hilfe. Muß der Verfolger resignieren, muß er selbst zum Rächer werden?

Leseprobe
Drei Uhr. Er muß jeden Augenblick kommen. Er wird quer über die Straße gehen. Ich werde den Gang einschalten und scharf anfahren. Dann gebe ich Vollgas, und er liegt unter den Rädern. Sie werden es einen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang und Fahrerflucht nennen. Seit Wochen stehe ich jede Nacht hier und beobachte ihn. Gestern habe ich mir den Wagen besorgt. Er ist zwanzig Zentner schwer. Wenn ich zu spät starte, fasse ich ihn vielleicht nur halb. Ich muß ihn frontal bekommen. Er muß mir aufrecht vor den Kühler. Es tut gut, die kalte Nachtluft zu atmen. Ich bin nicht erregt. Im Gegenteil, meine Gedanken sind klar und kalt. Ich liebe diese kühle Drei-Uhr-morgens-Stimmung in den leeren Straßen der großen Städte. Wenn er mit dem Taxi in die Straße einbiegt, werde ich den Motor starten, den man im Leerlauf kaum hört. Er wird ein wenig angetrunken sein, er wird wie immer schweigend das Taxi bezahlen, das dann davonfährt. Ich habe das oft beobachtet. Er wird wie immer an den gelben Zigarettenautomaten treten und eine Packung ziehen. Dann wird er ein wenig pfeifen und die Straße überqueren, ziemlich langsam übrigens. Es fängt an zu regnen, ein wenig nur. Ausgezeichnet. Das macht den Unfall wahrscheinlicher...
Im Krieg hatte ich den Mann aus den Augen verloren. Aber dann sah ich ihn eines Mittags in den Wartesaal treten. Die Sonnenstrahlen warfen durch die gelben Fenster ein aprikosenfarbenes Licht auf die vielen Tische, an denen vorüber er langsam näher kam. Ich erkannte ihn sofort. Er hatte sich herausgemacht, er sah gepflegt aus. Ich versteckte mich hinter meiner Zeitung, als er an meinem Tisch vorbeikam. Er sah mich nicht. Er ging davon. Ich ließ die Zeitung langsam sinken und folgte ihm unauffällig mit den Augen. Sein Haar war ein wenig grau geworden. Aber er hatte noch denselben weichen, trägen Gang wie damals. Gelassen schlenderte er durch den Wartesaal. Die runde blasenartige Stirn, die Lachfältchen um die Augen, die auffallend korallenroten Lippen unter dem blonden Schnurrbart; er war es, und nichts an ihm hätte auf den ehemaligen Spitzel der Gestapo schließen lassen.

Verlag Volk und Welt Berlin, 1979
Roman-Zeitung 357

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.