20 November 2021

Hannes Bahrmann, Christoph Links: Wir sind das Volk – Die DDR zwischen 7. Oktober und 17. Dezember 1989 – Eine Chronik

„Wir sind das Volk“ – dieser schlichte Satz hat Weltgeschichte gemacht. Er bündelte unterschiedliche Interessen zu gemeinsamem Aufbegehren, er diente als Sprengkraft und als Programm. Seine Signalwirkung rührt aus vier Jahrzehnten Propaganda her, in denen eine sich immer mehr vom Volk entfernende Führung immer lauter behauptete, alles für das Volk zu tun, ganz in seinem Sinne zu handeln. Dem setzten Hunderttausende ein klares Zeichen entgegen. Sie sprachen der Führung mit diesem einen Satz jede Legitimität ab, denn nur aus der Behauptung, Sachwalter der Volksinteressen zu sein, leitete sich ihr Herrschaftsanspruch ab, der durch keine ehrlichen Wahlen untermauert war. Das Volk nahm seine Entmündigung nicht länger hin. Während sich ringsum Veränderungen vollzogen, man in der Sowjetuntion, in Polen und Ungarn daranging, stalinistische Verhältnisse zu überwinden, versuchte Erich Honecker mit seinem überalterten Politbüro, die verkrusteten Strukturen weiter zu zementieren. Doch weder die Manipulationen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 noch die demonstrative Begrüßung des Massakers in China, weder die eingeschränkten Reisemöglichkeiten noch die gleichgeschalteten Medien konnten das überlebte System retten. Im Gegenteil. Die Unfähigkeit zum Dialog, die allgemeine Verhärtung erhöhten nur den Druck. Zehntausende verließen über Ungarn und die CSSR das Land in Richtung Westen. Im Innern formierten sich neue Oppositionskräfte, die nun auch öffentlich hervortraten und den Regierenden die Stirn boten. Selbst in der SED brachen die Widersprüche auf, meldeten sich Reformentschlossene zu Wort. Prominente Künstler und Schriftsteller engagierten sich für die Bewegung. Bald gingen die ersten auf die Straße, wo sie mit Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Hundestaffeln empfangen wurden. Doch ihnen folgten trotz allem Tausende und Abertausende nach. Sie machten deutlich: „Wir sind das Volk“. Und dieses Volk ließ sich weder abwählen noch auswechseln. Entschlossen und besonnen meldete es seine Forderungen an, verlangte, nicht nur gehört zu werden, sondern endlich selbst entscheiden zu können. Es ging nicht mehr nur um den Wechsel von Figuren, sondern um eine grundlegende Neugestaltung der politischen Verhältnisse. Der Rücktritt der gesamten Führungsmannschaft, die Auflösung einiger Ministerien, der Verzicht der SED auf einen in der Verfassung festgeschriebenen Führungsanspruch und die Öffnung der Grenzen waren nur erste Schritte auf dem Weg in eine von Grund auf veränderte Gesellschaft. Wie diese jedoch aussehen soll, ist durchaus strittig. Während die einen meinen, aus „Wir sind das Volk“ müsste nun „Wir sind ein Volk“ werden, meinen andere, die Eigenstaatlichkeit der DDR sollte möglichst lange erhalten bleiben. Während hier nach freier Marktwirtschaft gerufen wird, fordert man dort Rätedemokratie. Gegensätzliche Konzepte prallen aufeinander, unterschiedliche Interessen treten zu Tage. Keine Gruppierung verfügt über ausreichend Kraft, sich allein durchzusetzen. Der Ruf „Wir sind das Volk“ reicht nicht mehr aus. Er brachte vor allem den gemeinsamen Protest zum Ausdruck, war Programm für die Zeit des stürmischen Aufbruchs, der hier in seiner Dynamik und Vielfalt zu dokumentieren versucht wurde. Künftig muss wohl wieder mit vielen verschiedenen Leitsprüchen gerechnet werden, denn eine Situation wie in diesem Herbst 1989 gibt es in den meisten Ländern wohl nur ganz selten. Es sind die großen Augenblicke der Weltgeschichte. (Christoph Links/Hannes Bahrmann)

Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1990, 1. Auflage

 

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