20 November 2021

Oskar Maria Graf: Wunderbare Menschen

„Einen solchen Haufen Theater!“ staunt der Bürodiener Kragler, wenn der Postbote die Manuskriptpakete in den riesigen Briefkasten der Neuen Bühne schiebt. Hilflos hockt der frischgebackene Dramaturg Oskar Maria Graf vor dem Papierberg, liest pausenlos, prüft und wählt aus. Die Münchener Neue Bühne, 1920 von Arbeitern und Intellektuellen in einem Wirtshaussaal gegründet, nimmt im Kunstbetrieb der bayrischen Metropole eine Sonderstellung ein. Hier versucht man, Arbeiter aus den Betrieben ins Theater zu holen. Ein kühnes Unterfangen, denn noch ist die blutige Niederlage der Räterepublik in aller Erinnerung, hinterläßt Mutlosigkeit und Verwirrung in der USPD, der auch Graf angehört und deren Anhänger in der Neuen Bühne den Ton angeben. Der entlaufene Bäckergeselle Graf steht mitten in den politischen Kämpfen der Zeit. Für ihn ist die Neue Bühne Fluchtpunkt in einem anarchisch ziellosen Leben. Er begegnet kunstinteressierten Arbeitern und linken bürgerlichen Intellektuellen, Schauspielern aller Couleur und weltfremden Poeten: dem herkulischen Packträger Ehrhardt, der seine Ersparnisse in das Unternehmen steckt, dem hochbegabten Regisseur Felber, Künstlern wie Alexander Granach und dem tragikomischen „Volksdramatiker“ Johannes Gutzeit, der erfolglos das Dramaturgenbüro belagert. Eifrig und engagiert die einen, zögernd und abwartend die anderen: lebendiges Abbild eines unausgegorenen, im Grunde aber progressiven Theaterlebens, eines ersten Versuches, Stücke für ein neues Publikum zu spielen.

In den Wirren der Inflation schließt die Neue Bühne ihre Pforten. Für sie gibt es keine Bankkredite, ihr fehlen eine starke Besucherorganisation ebenso wie politisch erfahrene Mitarbeiter. Und doch ist dieser heroische Versuch nicht umsonst. Die besten Köpfe des Theaters haben wichtige Erfahrungen sammeln können, und Graf, der 1927 sein Erinnerungsbuch veröffentlicht, hat etwas Entscheidendes begriffen: die intensive Kunstbegeisterung der Arbeiter, proletarische Solidarität und Opferbereitschaft. Sein komplizierter Weg an die Seite der Arbeiterklasse ist in der „Heiteren Chronik“ jener Jahre vorgezeichnet. Farbig und humorvoll geschrieben, ist sein Bericht bewegendes Dokument und rückhaltlos offene Lebensbeichte in einem.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1976

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.