06 Januar 2022

Judith Guest: Eine ganz normale Familie

Mit diesem bemerkenswerten Romanerstling gelang der aus Detroit, Michigan, stammenden ehemaligen Lehrerin Judith Guest auf Anhieb der Durchbruch in die vorderen Reihen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Mit großer menschlicher Anteilnahme erzählt sie die Geschichte des siebzehnjährigen Conrad Jarrett, der in einer wohlhabenden, harmonischen, äußerlich ganz normalen Familie aufwächst. Seit jenem Tag vor zwei Jahren jedoch, an dem sein älterer, von ihm besonders verehrter Bruder ums Leben kam, ist Conrad nicht mehr derselbe. Unerklärliche Schuldgefühle, Ängste, Kontaktstörungen treiben ihn zu einem Selbstmordversuch. Als er nach längerem Aufenthalt in einem Nervensanatorium entlassen wird, ergeben sich für ihn aus dieser erneuten Konfrontation mit der Umwelt Probleme, bei deren Bewältigung ihm weder der allzu besorgte Vater noch die emotional unterkühlte Mutter eine Hilfe sind. Schritt für Schritt tastet sich der empfindsame Junge vorwärts in einem Labyrinth familiärer und sozialer Zwänge und gewinnt, nicht zuletzt mit Unterstützung eines verständnisvollen Psychiaters, allmählich wieder Boden unter den Füßen. Mit psychologischem Feingefühl sowie sprachlichem und gestalterischem Geschick zerstört die Autorin in diesem nachdenklich stimmenden Familienroman die Illusion von einer angeblich heilen Welt, indem sie auf die Gefährdung des Menschen in einer Gesellschaft verweist, die von Erfolgsdenken, Gefühlsabbau und Kommunikationsverlust gekennzeichnet ist.

Buchbeginn
Um morgens aufzustehen, braucht man einen Leitsatz. Etwas, woran man sich halten kann. Einen Aufkleber, wie die Autofahrer, die auf den Schnellstraßen einander zurufen: Hup, wenn du Jesus liebst. Sei nett zu Tieren - küß einen Biber. Sie identifizieren sich mit ihren Glaubensbekenntnissen, machen sich damit Feinde: Auch ich habe einen Traum - Gesetz und Ordnung. Rod McKuen muß Präsident werden.
Er liegt im Bett auf dem Rücken, sieht an den Wänden seines Zimmers entlang und fragt sich, was aus seiner eigenen Sammlung von Bekenntnissen wohl geworden ist. Er hatte sie auf Pappe gezogen und mit Reißnägeln befestigt, damit die Wände nicht beschädigt wurden. Sie waren verschwunden. Wahrscheinlich weggeworfen mit all dem anderen Zeug, mit den Farbdrucken von den Mannschaften der Cubs, der White Sox und der Bears - Erinnerungen an die ersten Oberschuljahre. Schade, Es wäre gut, etwas zu haben, was man ansehen kann. Statt dessen sind die Wände kahl. Frisch gestrichen. Blaßblau. Eine ängstliche Farbe. Angst ist blau, Versagen grau. Er kennt diese Farbtöne. Er hat Crawford erzählt, daß sie wieder auf dem Fußende seines Bettes säßen, ihn lähmten, mit Scham erfüllten. Aber Crawford war nicht beeindruckt. Laß das. Hör auf, dich selbst fertigzumachen. Kümmere dich um das, was dich zum Lachen bringt...

Verlag Volk und Welt Berlin, 1. Auflage 1979
 

Robert Redford verfilmte die Geschichte 1980.


Eine ganz normale Familie gewann bei der Oscarverleihung 1981 als Bester Film, für die Beste Regie, das Beste adaptierte Drehbuch und mit Timothy Hutton als Bester Nebendarsteller vier Oscars.

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