17 Februar 2022

Leonardo da Vinci: Fabeln

 Leonardo da Vinci (1452-1519), Universalgenie der Renaissance, hinterließ Aufzeichnungen zur Malerei, zur Musik, zum Bronzeguß, zur Optik, Perspektive, Anatomie und Botanik, zu dem Flug der Vögel und der Bewegung des Wassers ... und er verfaßte auch Fabeln. Wie alle seine geistigen Produkte entstanden sie aus genauer Beobachtung der Natur, die er als beseeltes Ganzes begreift, und der Menschen. Leonardo läßt Schnee, Fuchs, Feigenbaum, Rasiermesser und anderes Belebte und Unbelebte sprechen und wirken, um uns zu sinnvollem und humanem Handeln zu leiten, um uns klarzumachen, daß unser eigen Tun und Trachten uns richtet: "Ein Wildbach, der vergaß, daß er seine Wasser dem Regen und anderen Bächen verdankte, gedachte anzuschwellen, um groß und mächtig zu werden wie ein Fluß. Er begann also, ungestüme Wellen gegen das Ufer zu werfen und voll Eifer Erde und Steine aufzuwühlen, damit sein Bett breiter würde. Als jedoch plötzlich die Sonne wiederkam, fand sich der arme Wildbach gefangen von all den Steinen, die er am Uferrand aufgetürmt hatte, und mit großer Mühe mußte er sich eine neue Straße bahnen, um zu Tal zu gelangen.“

Buchanfang:

Das Papier und die Tinte

(Aus: Favole, fol. III. 27 r.)

Ein Blatt Papier, das zusammen mit anderen, ihm ähnlichen Blättern auf einem Schreibtisch lag, sah sich eines Tages mit Zeichen bedeckt. Eine Feder, in schwärzester Tinte gebadet, hatte es mit vielen Wörtern und Zeichen übersät.
"Konntest du mir diese Erniedrigung nicht ersparen?" sagte das Blatt erzürnt zur Tinte. "Du hast mich besudelt mit deiner höllischen Schwärze und für immer ruiniert!"
"Warte ab", antwortete ihm die Tinte. "Ich habe dich nicht besudelt, sondern dich mit Sinnbildern versehen. Jetzt bist du kein Blatt Papier mehr, sondern eine Botschaft. Du bewahrst den Gedanken des Menschen und bist somit ein kostbares Instrument geworden."
Und in der Tat: Bald darauf machte jemand Ordnung auf dem Schreibtisch, sah die verstreuten Blätter und wollte sie ins Feuer werfen. Unversehens kam ihm das "besudelte" Blatt in die Hand, und er schied es von den anderen und legte es zurück auf seinen Platz, weil es unübersehbar die Botschaft der menschlichen Intelligenz trug.

Reclams Universal-Bibliothek Band 621, 4. Auflage
Umschlaggestaltung: Friederike Pondelik
unter Verwendung einer Handzeichnung von Leonardo da Vinci
Aus dem Italienischen von Rudolf Hagelstange
Herausgegeben von Bruno Nardini
Nachwort von Christine Wolter
Mit Reproduktionen nach Handzeichnungen von Leonardo da Vinci

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