26 Mai 2023

Liesl Richter, Christine Klemke: Naseweis trifft Blütenweiß

Ich haiße Naseweis
Ich wohne an einem Spielzeugschrank. Dieser Spielzeugschrank gehört einem Jungen. Der Junge heißt Fridolin.

Fridolins Oma, Oma Annemarie, hat sich ein Bein gebrochen. Doktor Fabian hat ihr ein Reservebein geknetet: dick, weiß, steif.
Es heißt Gipsbein. Oma Annemarie darf damit nicht laufen. Sie sitzt und liegt und liegt und sitzt. Und weil den Erwachsenen das Stillsitzen viel, viel schwerer fällt als den Kindern, fuchtelt sie dauernd mit den Armen herum. Pick-pick, nick- nick, pick-pick, nick-nick..., geht es den lieben langen Tag.
Oma Annemarie strickt.
Der Winter und Fridolins Geburtstag stehen vor der Tür, und Oma Annemarie sitzt dahinter und strickt.
Pick-pick, nick-nick, soll ein kuscheliger Wollschal werden. Ein Wollschal, in den sich Fridolin vom Scheitel bis zur Sohle einwickeln kann. Anders ist das nicht denkbar, denn der Schal schlängelt sich schon durch die halbe Stube, und Oma Annemarie will ihr Stricknadelkonzert weiterspielen. Doch sie kann nicht!
Sie kann nicht, weil sich aus Luft kein Schal stricken läßt und die Wolle zu Ende ging. Oma Annemarie braucht Wolle, aber keiner findet Zeit, Wolle zu holen. Oma Annemarie murrt. Und wenn sie murrt, murrt die ganze Familie. Alle sind miteinander vermurrt.
Ob ich mich auf die Naseweis-Socken mache?

Aus dem Buch
Zu Hause angekommen, halte ich eine neugierige Naseweis-Herumschaue und traue meinen Augen nicht.
Nirgendwo sitzt Oma Annemarie. Ist sie Wolle holen gehumpelt?
Nein! Oma Annemarie brutzelt in der Küche herum.
Auf Fridolins Tisch liegt, zu einem himmelblauen Wollberg zusammengefaltet, der Wollschal. Ich überlege: Könnte es sein, daß Fridolin heute Geburtstag hat?
Ich setze meine neue Mütze zurecht, werfe mir das Seidenhemd um, das mir der gute Geist als allerallerletzten usbekischen Gruß in den Baumwollwaggon schob, zupfe aus dem Baumwollballen flauschige Flocken, damit eine große weiße Wolke auf dem Geburtstagstisch entsteht, und stelle mich – als wäre gar nichts gewesen – an den Spielzeugschrank.
Fridolin tobt durch die Stuben...
Alle Fenster stehen offen.
Der Wind tobt mit.
Holla!
Die weiße Wolke schwebt vom Geburtstagstisch. Sie verteilt ihre flauschigen Flocken auf den kahlen Ästen des Ahorns, der vor unserem Haus steht.
Die Familie setzt sich an den Geburtstagstisch. Fridolin schielt nach den Geschenken.
Erstrahlt. Er strahlt Oma an. Und mich auch.
»Ihr habt den Naseweis aber festlich herausgeputzt«, sagt er anerkennend und wickelt sich dabei in seinen neuen Schal.
Oma Annemarie, die kein Gipsbein mehr hat, ist wieder in Form. »Bloß gut«, betont sie, »daß ich den Schal noch fertigbekommen habe. Schaut hinaus, es hat schon das erste Mal geschneit!«
Alle bestaunen die Flocken.
»Geburtstagsschnee!« kommentiert Fridolin und stößt seinen Löffel halbverhungert in den Schlagsahneberg.
Wie schnell sich doch auch Erwachsene täuschen lassen!


Erzählt von Liesl Richter und illustriert von Christine Klemke
Für Kinder von 6 Jahren an

Buchverlag Junge Welt

1. Auflage 1987
2. Auflage 1988
3. veränd. Auflage 1991

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