Der Junge schaute mit dem Fernglas nach allen Seiten. Rundum Berge - Felsen, Steine, Wälder. Aus der Höhe, von den Gletschern, gingen lautlos glitzernde Bäche hernieder, und es schien, als bekäme das Wasser erst hier unten eine Stimme, um ewig, unaufhörlich im Fluß zu rauschen. Und die Berge standen so gewaltig und grenzenlos. Der Junge fühlte sich in diesem Augenblick sehr klein, sehr einsam, ganz verloren.
Die Sonne neigte sich schon zum Untergang auf der Seeseite. Die Hitze ließ nach. Auf den östlichen Hängen entstanden die ersten kurzen Schatten. Zu dieser Tageszeit erschien gewöhnlich der weiße Dampfer auf dem Issyk-Kul.
Der Junge stellte das Glas auf den entferntesten Punkt ein und hielt den Atem an. Da! Und sogleich war alles vergessen. Am dunkelblauen Rand des Issyk-Kul war der weiße Dampfer aufgetaucht. Da war er! Mit einer Reihe von Schornsteinen, lang, gewaltig, schön. Er schwamm wie nach einem Lineal, so gleichmäßig und gerade. Der Junge wischte hastig die Gläser am Hemdzipfel ab und korrigierte noch einmal die Okulare. Die Umrisse des Dampfers wurden noch deutlicher. Jetzt war schon zu sehen, wie er auf den Wellen schaukelte und hinter dem Heck eine Spur von hellem Schaum zurückblieb. Unablässig, hingerissen starrte der Junge auf den Dampfer. Ginge es nach seinem Willen, so hätte er den Dampfer gebeten, näher heranzufahren, damit die Menschen darauf in Sicht kämen. Doch der Dampfer wußte nichts davon. Langsam und majestätisch verfolgte er seinen Weg, unbekannt woher und wohin.
Lange war zu sehen, wie der Dampfer dahinglitt, und der Junge dachte lange darüber nach, wie er sich in einen Fisch verwandeln und durch den Fluß zu ihm, dem weißen Dampfer, schwimmen würde ... Aber als er einst vom Karaulberg aus zum erstenmal den weißen Dampfer gesehen hatte, war sein Herz ob dieser Schönheit so laut geworden, daß er sofort zu dem Schluß kam, sein Vater - ein Matrose vom Issyk-Kul - müsse auf diesem Dampfer fahren. Der Junge glaubte dran, weil er es sehr wünschte.
Der Junge erinnert sich weder an den Vater noch an die Mutter. Aufgewachsen in der kirgisischen Bergeinsamkeit, abgeschnitten vom lebendigen gesellschaftlichen Leben, zerbricht er an den Widersprüchen zwischen der vom gütigen Großvater vermittelten lichten Märchenwelt und der düsteren Macht seines skrupellos karrieristischen Onkels Oroskul.
Verlag Volk und Welt Berlin
Roman-Zeitung 424
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