06 Juni 2023

Gisela Gnausch (Hrsg.): Die Tigerklaue - Jagdgeschichten

Die Jagd: Büchsenknall und Fackelschein, durchs Dickicht brechendes Wild, eine Meute kläffender Hunde, das große Halali und mittendrin der Mensch, der Jäger, Beherrscher der Natur, König über Leben und Tod. Oder: ein einsam durch den Busch, die Savanne streifender Jäger auf der Suche nach Nahrung, die er zum Überleben braucht, sich dabei den Gesetzen der Natur unterwerfend, sie pflegend und schonend, in und mit ihr lebend. Oder aber: der Mensch, allein auf sich gestellt, im Kampf gegen das Tier, die Bestie, die Beute; das Spüren der eigenen Kraft, ein intensiveres Lebensgefühl. Was ist stärker? Animalische Wildheit oder menschliche Intelligenz?
All das ist Jagd. Und von alledem erzählen die Geschichten dieses Bandes. Doch schildern die Autoren von weltliterarischem Rang wie Tolstoi, Maupassant, Kipling, Hemingway, aber auch zu Unrecht weniger bekannte wie Pergaud, Bécquer, Diop nicht den stereotypen Ablauf der Jagd mit den klar verteilten Rollen: hier der Gejagte das – Tier; dort der Jäger – der Mensch. Vielmehr steht das besondere, das außergewöhnliche Ereignis im Vordergrund, zeigt sich menschliche Leidenschaft ebenso elementar wie in der Liebe.

Buchanfang
LU XUN
Die Flucht zum Mond
Ein kluges Haustier weiß, was ein Mensch denkt: Als das Tor des Hauses in Sicht gekommen war, hatte das Pferd den Schritt verlangsamt und den Kopf gesenkt, so wie es auf seinen Rücken der Herr auch tat; bei jedem Schritt nickte es, als ob es Reis stampfte.
Kalte Abendnebel hüllten das große Gebäude ein, während über allen Nachbarhäusern vom Kochen dicker, schwarzer Rauch aufstieg, denn es war schon die Zeit des Abendessens. Die Hausdiener, die das Pferdegetrappel gehört hatten, waren schon längst herausgetreten und standen alle mit herabhängenden Armen steif vor dem Tor. Als Yi neben einem Abfallhaufen lässig vom Pferd stieg, nahmen ihm die Hausdiener Zügel und Peitsche ab. Wie er gerade zum Tor eintreten wollte, schaute er auf den an seiner Hüfte hängenden Köcher voll nagelneuer Pfeile und auf das Jagdnetz herab, in dem sich drei Krähen und ein zerschmetterter Sperling befanden. Dieser Anblick machte ihn sehr verlegen. Aber schließlich setzte er ein entschlossenes Gesicht auf und trat mit großen Schritten ein, so daß die Pfeile im Köcher laut aneinanderschlugen.
Als er den Innenhof betrat, erblickte er Chang-e, wie sie spähend ihren Kopf durch das runde Fenster steckte. Bestimmt hatte sie mit ihren scharfen Augen schon längst die wenigen Krähen entdeckt. Unwillkürlich zögerte er und verhielt plötzlich den Schritt – aber ihm blieb nichts weiter übrig, als hineinzugehen. Die Hausmädchen kamen heraus, ihn zu begrüßen. Sie nahmen ihm Pfeile und Bogen ab und öffneten das Jagdnetz. Ihm schien es, als ob sie traurig lächelten.
„Teuerste!...“ rief Yi, während er sich Hände und Gesicht abwischte und zum inneren Zimmer weiterging.

Inhalt:
Lu Xun  – Die Flucht zum Mond .......... 5
Nikolai Semjonowitsch Leskow – Das Tier .......... 18
Guy de Maupassant – Der Wolf .......... 37
Friedrich Gerstäcker – Die Nacht auf dem Walfisch .......... 42
Herodot – Glück und Unglück des Kroisos .......... 61
Antonio Francesco Grazzini – Des Fischers Glück und List .......... 71
Birago Diop – Die Hindin und die beiden Jäger .......... 84
Rudyard Kipling – Quiquern .......... 96
Mihail Sadoveanu – Wenn der Auerhahn balzt .......... 118
Juan Manuel – Was dem Grafen von der Provence mit Saladin, dem Sultan von Babylon, begegnet ist ...... 125
Bjørnstjerne Martinius Bjørnson – Der Bärenjäger .......... 132
Sarah Orne Jewett – Ein weißer Reiher .......... 138
Rasipuram Krishnasvami Narayan – Die Tigerklaue .......... 150
Kálmán Mikszáth – Kozibrowski macht ein Geschäft .......... 156
Jack London – Das Kind des Meeres .......... 198
Lew Nikolajewitsch Tolstoi – Jagdgeschichten .......... 210
Apuleius – Weibliche Rache .......... 224
Gustavo Adolfo Bécquer – Das weiße Reh .......... 233
Ludwig Thoma – Der Menten-Seppei .......... 251
Lafcadio Hearn – Nüchterner Verstand .......... 255
Pelle Molin – Ein Tanz, während Mutter wartet .......... 259
Baldomero Lillo – Auf der Pirsch .......... 269
Emiljan Stanew – Der Steinbock .......... 274
Gottfried August Bürger – Jagdabenteuer des Freiherrn von Münchhausen .......... 281
Alphonse Daudet – Die Gemütsbewegungen eines jungen roten Rebhuhns .......... 288
August Strindberg – Neue Waffen .......... 294
Jack Cope – Trinker am bitteren Wasser .......... 322
Paul Zech – Toncueta-Indianer beim Fischfang .......... 333
Alan Marshall – Die dreibeinige Hündin .......... 342
Giovanni Verga – Wolfsjagd .......... 359
Ernest Hemingway – Großer doppelherziger Strom II .......... 365
Muchtar Omarchanuly Auesow – Der graue Wildling .......... 376
Louis Pergaud – Eine Froschjagd .......... 399
Pentti Haanpää – Der Flügellahme .......... 406
Ota Pavel – Der Tod der schönen Rehböcke .......... 412
Arthur Miller – Nicht gesellschaftsfähig .......... 427
Lizandro Chávez Alfaro – Die Affen von San Telmo .......... 446
Anna Seghers – Sagen von Artemis .......... 459

Nachwort .......... 480
Sach- und Worterklärungen .......... 483
Die Autoren .......... 486
Rechtsvermerke .......... 491

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gisela Gnausch
Illustrationen von Karl Fischer

Verlag Neues Leben Berlin

1. Auflage 1985
2. Auflage 1987

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