31 Juli 2023

Elisabeth Kumpf: Das Nebelkloster – Sagen und Legenden aus Thüringen

Buchanfang
Siechenhaus
und Limpertstein in Gerstungen

Die Gerstunger mußten an jedem Fleischtag dem Grafen von Brandenburg als Taxe kostenlos einige der schönsten Fleischstücke überlassen. Nun war der Bote, der vom Brandenburger geschickt wurde und wegen seines Gebrechens der lahme Limpert hieß, nicht sehr erfreut über den Auftrag. Er ließ sich deshalb stets viel Zeit und gönnte seinem Esel, der rechts und links die Körbe für den Fleischzoll trug, reichlich Ruhepausen. Die Gerstunger mußten ja warten, bis er erschien.
So wuchs der Groll der Fleischer von Jahr zu Jahr, bis sie schließlich grausam an dem säumigen Steuereinnehmer Rache übten. Dann schickten sie dessen zerstückelten Leib statt der geforderten Fleischstücke dem Brandenburger zurück.
Als der erste blindwütige Zorn verraucht war, fürchteten die Gerstunger mit Recht eine unbarmherzige Strafe des Brandenburgers. Sie sandten deshalb den Redegewandtesten aus dem Rat als Mittelsmann zum Grafen von Brandenburg. Nach langem, vergeblichem Bemühen sagte der Unterhändler schließlich, die Stadt sei bereit, jede Art von Buße zu zahlen, so der Graf sie von Krieg und Brandschatzung verschone.
Der Graf dachte sich eine Buße aus, von der er meinte, die Gerstunger könnten sie nie erbringen. Und wirklich waren die Ratsmitglieder und die Bewohner der Stadt vor Verzweiflung wie gelähmt, als der Unterhändler die Forderungen des Brandenburgers verkündete: Ein Scheffel Silberlinge im Wert eines Pfennigs, drei Windhunde von himmelblauer Farbe und drei Eichenstöcke, ebensogroß wie er, die glatt und ohne Knoten gewachsen waren. .....

Nachwort
»Es wird dem Menschen von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet. Diese wohltätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichten, welche nebeneinander stehen und nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden Geist uns nahezubringen streben.«
Diese Worte der Gebrüder Grimm sind nicht nur ein Loblied auf Sage und Märchen, sie weisen hin auf eine ihrer wichtigen Aufgaben, uns die Vorzeit nahezubringen. Das ist auch das Anliegen dieses Buches. Die Sagen und Legenden aus dem thüringischen Raum sind nur ein geringer Teil seines reichen Sagenschatzes und auch nur eine Auswahl aus den Sagen mit christlichem Bezug. Da die Abgrenzung zwischen Sage und Legende nicht immer eindeutig festzulegen ist, wurde im Text auf den Begriff Legende verzichtet und nur die Bezeichnung Sage verwendet.
Von der kirchlichen Organisation her sind die Sagen und Legenden vorwiegend in dem Bereich des Jurisdiktionsgebietes Erfurt-Meiningen angesiedelt, aber auch Randgebiete des Bistums Dresden-Meißen und nach Thüringen gehörige Bezirke des Bischöflichen Amtes Magdeburg sind mit erfaßt.
Die Gliederung des Buches erfolgte nach landschaftlichen Gesichtspunkten, wobei Grenzgebiete zwischen den geographischen und damit meist auch einzelnen Kulturkreisen besonders reich an Sagengut sind. Es sind Landstriche, in denen eine exakte Grenzziehung oder Zuordnung oft schwerfällt.
Im Gegensatz zum sächsischen Sagengut fallen im Thüringer Gebiet die gehäuften Burg- und Geschlechtersagen auf, dagegen gibt es relativ wenig Hexen- und Zauberersagen. Bei den Teufelssagen überwiegen häufig märchenhafte Züge.
Die Auseinandersetzung zwischen der »Alten« und der »Neuen« Lehre, die Ausbreitung und Durchsetzung der Reformation, die im Dresden-Meißner Raum verdeckt oder offen einen großen Platz einnimmt, tritt hier nicht so stark in Erscheinung, ja, man findet fast schon etwas wie frühe Hinweise auf ein ökumenisches Denken. Im sächsischen Raum spielen die Hussitenkriege eine große Rolle. Oft stellen sie den Martyrertod um des Glaubens willen in den Mittelpunkt. Im Thüringer Raum ist es vor allem der Dreißigjährige Krieg, der einen Teil des Sagengutes prägte, und häufig ist dieses von einer starken Friedenssehnsucht durchdrungen.
Auch finden wir bei den Sagen, wie könnte es anders sein, Unstimmigkeiten, die sich entweder auf Zeitraum, Ort oder Personen beziehen, z. B. die Angabe des Geburtsortes von Dr. Faust. Manche der dargestellten Episoden gleichen rein historischen Berichten, und es sind oft nur kleine Einschübe, erläuternder oder deutender Art, die sie zur Sage oder Legende stempeln. Diese der geschichtlichen Forschung widersprechenden Züge zu korrigieren würde aber einen Eingriff in das Wesen von Sage und Legende bedeuten.
Bei den Erklärungen von Ortsnamen dominiert die Volksdeutung. Vergessene Namensursprünge finden eine dem Klangbild angepaßte Erklärung. Ein Musterbeispiel dafür ist die Sage über die Entstehung der Namen Hörselberg und Sättelstädt, in denen die Behauptung aufgestellt wird, daß die vom Volksglauben geprägte Deutung die ursprüngliche sei und diese erst im Laufe der Geschichte vergessen und verändert wurde.
Deutlich spürbar sind in den einzelnen Sagenquellen die Anliegen der jeweiligen Sammler, die offene oder verborgene Tendenzen stärker hervorheben, so z. B. Bechstein, der sich fast wie ein »Hofberichterstatter« liest. Andere Quellen verraten teilweise eine überbetonte Heimatliebe. Es fehlen vor allem nicht die vom Wunsch der einfachen Menschen geprägten Sagen, in denen Strafe und Vergeltung, die Sehnsucht nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit ihren Ausdruck finden. Viele der »Vergeltungssagen« wirken für unser Empfinden übertrieben und sind es wohl auch, wie die Sage über die Gräfin Henneberg, die so vielen Kindern das Leben schenken mußte, wie ein Jahr Tage hat.
So sind diese Sagen nicht nur ein unterhaltender Lesestoff, sondern sie vermögen es, uns in das Leben, die Sorgen und Nöte, die Wünsche und die Vorstellungen der Menschen früherer Zeiten Einblick zu geben, in ihren Glauben und ihre sittlichen Normen.
Ich möchte nicht versäumen, all denen zu danken, die mir mit Hinweisen halfen oder Material zur Verfügung stellten.
Elisabeth Kumpf

Illustrationen und Typografie: Ino Zimmermann
Einband und Umschlaggestaltung: Paul Zimmermann

St.-Benno-Verlag GmbH Leipzig

1. Auflage 1990 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.