14 Juli 2023

Wolfgang Schreyer: Der Traum des Hauptmann Loy

Ein US-amerikanisches Militärflugzeug bringt sechs Personen zu einem NATO-Manöver. Während des Fluges ändert sich der Befehl: Es soll ein Agent aufgenommen werden, der auf einer sowjetischen Insel wieder abgesetzt werden soll. Daraufhin kommt es zu einem Streit und zu einem Feuergefecht. Nicht alle Insassen überleben …

Buchanfang
Tripolis
Die Oase schien zu atmen wie ein geschmeidiges junges Tier im Morgenschlaf. Eine schwache Brise wehte aus Nordwest, vom Golf von Gabes her, sie strich über die palmengekrönten Gärten der Menscia, die erfüllt waren vom Schwirren der Vögel. Silberblasse Oliven wiegten ihre gefiederten Blätter in diesem erfrischenden Hauch, die dunkelgrünen Wipfel der Granatapfel- und Orangenbäume regten sich leicht, während Mastixsträucher, hohe harte Kakteen, der Rizinus und die skelettartigen Stämme der indischen Feigen in schweigender Ruhe verharrten. Westwärts, in flimmernder Ferne, dort, wo sich die strahlende Himmelsschale aufs Meer herniedersenkte, dehnte sich, mehr als zwei Wegstunden entfernt, eine weiße Stadt. In schimmernden Glanz getaucht, von Wellen umspült und von Heiterkeit umflossen, schlief sie in verzauberter Erschlaffung: Tripolis – ein riesiger Block zerklüfteten Marmors.
Doris Graves schirmte die Augen mit der gewölbten Hand ab, denn die Luft war durchtränkt von blendendem Licht. Sie stand auf dem quadratischen Turmdach des neuen Hotels der British Overseas Airways Corporation, das sich unweit der libyschen Küste zwischen den Salzgruben und dem Flugplatz von Mellaha aus einem immergrünen Pflanzenlabyrinth erhebt. Trotz der frühen Stunde war es schon warm; kleine Schweißtröpfchen perlten auf ihrer Stirn. Sie lehnte an der steinernen Balustrade, lauschte dem Vogelgekreisch und dem Rauschen der Meeresbrandung, das dumpf-rhythmisch an ihr Ohr drang, und überließ sich der Liebkosung des salzigen Morgenwinds. Er hüllte sie ein mit zarten afrikanischen Düften; sie verspürte plötzlich ein leises Sehnen. Der Geruch der Gärten weckte in ihr ein Gefühl der Freiheit, fast bedauerte sie, daß sie dieses Land in wenigen Stunden verlassen mußte. In all den vielen Monaten ihres Dienstes hier hatte sie nie so tief die Schönheit der Oase empfunden nun war es fast zu spät. Im Spiel der Sonne, des Windes, der Himmelsbläue erschien ihr der Palmenhain an der staubigen Straße nach Suk el Giuma von königlicher Anmut. Das Licht tropfte durch die dichten Fächer seiner Blätter und zeichnete grelle Flecke von erstaunlicher Klarheit in die schwarzlila Schatten der Kronen. „Komm her, Pat“, rief sie, „es ist wunderbar!“
Patricia Binchy, ein bemerkenswert schönes Mädchen mit mattrot getöntem, kurzgeschnittenem Haar, tauchte im Treppenschacht auf. Sie trug nicht, wie Doris, die Tropenuniform der weiblichen USAF-Angehörigen*, sondern ein leichtes Reisekostüm, dessen Olivgrün lebhaft zu ihrem Haar kontrastierte.
„Schon in Zivil?“
„Ja, für immer.“
„Wirklich?“
„Für immer“, wiederholte Patricia. „Vorausgesetzt natürlich, sie geben mir nicht eine Rolle, für die ich es tun muß.“ „Was tun?“
„Nun, irgendeine Uniform anziehen. Teerose, du träumst.“
„Die Luft ist wunderbar hier oben“, sagte Doris leise. „Weshalb sollten sie dir solche Rolle geben?“
„In Hollywood muß du mit allem rechnen.“
„Schrecklich, Pfefferkorn“, sagte Doris mit sanftem Spott, „aber du wirst deinen Weg schon machen.“
„Verlaß dich drauf... Was meinst du, wahrscheinlich ist mehr als die Hälfte erlogen von dem, was man sich über Hollywood erzählt.“
„Ja, sicherlich. Komm doch hierher, Pat. Was siehst du denn da drüben schon?“
„Na, unsere Maschine! Wo guckst du hin? Dort steht sie doch, da!“
Patricia deutete auf die graugelbe Betonpiste der Startbahn C. Ein schlankes viermotoriges Flugzeug mit dreifachem, eiförmigem Seitenleitwerk ruhte dort, sechzig Tonnen schwer, auf riesigen Reifenpaaren. Silbergrau schimmerte sein Haifischrumpf, ein paar Männer vom Bodenpersonal kletterten, emsigen Käfern gleich, daran herum. Von den prachtvoll geschwungenen, fast hundertsechzig Quadratmeter umspannenden Tragflächen spritzten Sonnenreflexe; der fünfzackige weiße Stern im blauen Feld blinkte auf dem linken Flügel, und rechts stand in meterlangen schwarzen Lettern „USAF“. Es war eine achtunggebietende Maschine, und obwohl ihre Ausmaße von hier oben weniger gewaltig wirkten, blieb es doch ein majestätischer Anblick. Unterhalb der Fenster war der Rumpf leuchtendweiß gespritzt.
„Unsere Connie“, rief Patricia, „ich kann es einfach nicht erwarten.“
„Ich schon.“
„Dein Urlaub – freust du dich nicht ein bißchen?“
„Ach, ich weiß nicht.“
„Kopf hoch, Teerose. Wenn ich erst einmal Fuß gefaßt habe bei der Metro-Goldwyn-Mayer, interessiere ich einen Manager für dich – das ist klar.“
Doris lächelte; dieses Versprechen gab Pat ihr nicht zum erstenmal. Abgesehen davon, daß sie der Gedanke, zum Film zu gehen, gar nicht lockte, war es ebensowenig ernst zu nehmen wie das meiste, was Pat neuerdings sagte oder tat. Seit der MGM-Regisseur Shary sie bei Dreharbeiten am Rande der Sahara „entdeckt“ hatte, war sie wie verwandelt und in mancher Beziehung nicht wiederzuerkennen. Ihre Wege würden sich bald für immer trennen, in ein paar Stunden schon. Pat ging nach Hollywood, sie aber blieb Fernschreiberin auf irgendeinem der zahllosen Flugplätze in Nordafrika, Frankreich oder auf den Azoren; sie würde weiter am Tastzahlengeber sitzen, eine neue Art von Vermittlungsgerät, bei dem eine Batterie Druckknöpfe die altmodischen Stöpsel mit Schnüren und Klinken ersetzte. Ihr Lächeln erstarb; sie atmete tief den Salzhauch der kurzen, lauen Windstöße.
„Warum sie bloß einen weißen Bauch hat?“ fragte Patricia, die noch immer zum Flugzeug hinüberschaute.
„Es ist eine Kommandeurmaschine“, sagte Doris. „Ach so! Was ganz Extravagantes, meinst du?“

Inhalt
Erstes Buch Mittag
1 Tripolis ….. 7
2 Roter Kanarienvogel ….. 33
3 Alte Geschichten ….. 63
4 Flirt ….. 99
Zweites Buch Nachmittag
5 Die Wette ….. 135
6 Fürstenreuth Air Force Base ….. 173
7 Rätsel im Heck ….. 223
8 Der zwölfte Mann ….. 255
Drittes Buch. Nacht
9 Auf der Rückseite ….. 293
10 Dritte Runde ….. 323
11 Die Entscheidung ….. 361
12 Saaremaa ….. 405
Nachwort ….. 431
Anmerkungen ….. 463

Verlag Das Neue Berlin, Berlin
1. Auflage 1956
2. Auflage 1957
3. Auflage 1957
4. Auflage 1958
5. Auflage 1959
6. Auflage 1960
7. Auflage 1962
8. Auflage 1964
9. Auflage 1966 

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